Vor 75 Jahren: Weinheim stand vor riesigen Problemen

Zum Kerwe-Feiern war im Sommer 1945 niemandem zumute

Portraitfoto Wilhelm Brück (1892-1972)
Wilhelm Brück (1892-1972)

von Heinz Keller

August 1945: seit fast fünf Monaten war Weinheim „amerikanisch besetzt“, seit 28. Mai hatte es auch einen neuen Bürgermeister. Die Militärregierung hatte am Tag zuvor den von ihr nach dem Einmarsch eingesetzten kommissarischen Bürgermeister Richard Freudenberg wegen angeblicher Beleidigung der Besatzungsmacht, wohl aber auch wegen seiner früheren Tätigkeit im Aufsichtsrat der Deutschen Bank, verhaftet und für 17 Monate ins Gefängnis, später ins Internierungslager gebracht.

Die Amerikaner hatten bei dieser Entscheidung auf die Empfehlung Richard Freudenbergs gehört und den Dachdeckermeister Wilhelm Brück zum neuen Bürgermeister bestellt. Der 53-Jährige, gleicher Geburtsjahrgang wie Freudenberg, hatte sich nicht nach dem Amt gedrängt („Ich habe den Posten als Stadtoberhaupt, zu dem ich gegen meinen Willen berufen wurde, weder erstrebt, noch gewollt“), stellte sich aber der gewaltigen Aufgabe, eine neue Stadtverwaltung nach den Erwartungen der Militärs aufzubauen und mit ihr die riesigen, kaum lösbar scheinenden Versorgungsprobleme anzugehen. Dafür stand ihm allerdings eine Reihe von erfahrenen Beamten und Angestellten nicht zur Verfügung, weil sie der NSDAP angehört hatten und deshalb aus dem Dienst entfernt worden waren.

Große Personalnot in der Verwaltung, Mangel, wohin man schaute. Brück setzte auf seine rhetorischen Fähigkeiten als früherer Sprecher des Weinheimer Handwerks und auf seine barocke Erscheinung, er argumentierte sachlich-direkt und unerschrocken gegenüber den Amerikanern, hatte trotzdem einen guten persönlichen Kontakt zu hohen Offizieren, die ihn respektierten, aber auch seine Geselligkeit schätzten.

In Weinheims schwierigsten Tagen hat sich Wilhelm Brück um seine Wahlheimat – er war 1912 als 20-Jähriger aus dem Kreis Wetzlar nach Weinheim gekommen – verdient gemacht. Dafür wurde er 1962 Ehrenbürger, darum erhielt die frühere Jahnstraße nach der Gemeindereform seinen Namen.

Unruhe in Weinheim

Bei Brücks Amtsantritt, bei dem ihn die bisherigen Beigeordneten Leonhard Seib (Stellvertreter), Ludwig Bohrmann, Franz Brummer und Adam Römer weiter zur Seite gestellt wurden, hatte Weinheim unruhige Wochen hinter sich. Im April war der amerikanische Stadtkommandant spurlos verschwunden und wurde tagelang vergeblich im Umland gesucht, ehe er in der Pfalz erschossen aufgefunden wurde.

Alle zwischen 16 und 60 Jahre alten männlichen Weinheimer hatten sich am 13. April in Haus Sonneck am Rande des noch von Splitter-Schutzgräben durchzogenen Stadtgartens melden und nachweisen müssen, dass sie aus Kriegsgefangenschaft nach Hause entlassen worden waren und sich nicht irgendwie nach Weinheim durchgeschlagen hatten. Wer das nicht konnte, wurde in ein Kriegsgefangenen-Lager gebracht.

 

Portraitfoto Dr. Walter Kauert
Dr. Walter Kauert

Einen Eindruck von der allgegenwärtigen Hilflosigkeit jener Tage vermittelt die Erinnerung an den Tod des langjährigen Chefarztes im Städtischen Krankenhaus, Dr. Walter Kauert. Er war am 10. April 1945 in der Heidelberger Chirurgie verstorben. Seine Frau Dr. Victoria Kauert, die ihn zwischen 1941 und 1945 als Chefärztin vertreten hatte, konnte in seiner letzten Stunde nur bei ihm sein, weil ihr Richard Freudenberg als Bürgermeister einen Passierschein ausgestellt hatte, ohne den niemand die Stadt verlassen durfte. Frau Kauert fuhr mit dem Fahrrad nach Heidelberg – eine andere Verbindung gab es nicht. Für die Heimführung Dr. Kauerts nach Weinheim stellte Richard Freudenberg einen Kutscher und Pferde für den Leichenwagen zur Verfügung. Die Beerdigung musste in kleinem Rahmen stattfinden, weil die Amerikaner ängstlich darauf achteten, dass sich auf dem Friedhof nicht zu viele Menschen versammelten.

Brücks Wochenberichte

Um zu erfahren, was im Sommer 1945 für die Weinheimer wichtig und vorrangig war, lohnt ein Blick in die Lageberichte, die Bürgermeister Brück wöchentlich der Militärregierung vorlegen musste. Sie sind im Stadtarchiv erhalten als Zeugnisse mühevoller, oft erfolgloser Versuche, das Chaos des totalen Zusammenbruchs wenigstens etwas zu lindern.

Ein Riesenproblem war im heißen Sommer 1945 die Ernährung der Bevölkerung. Mit Wochenrationen von 1.000 Gramm Brot, 150 Gramm Fleisch, 150 Gramm Kaffee-Ersatz, 125 Gramm Fett oder Öl, 100 Gramm Quark und 125 Gramm Nährmitteln kam ein „Normalverbraucher“ gerade mal auf einen Nährwert von 900 Kalorien und blieb damit erheblich unter dem Existenzminimum von 1.200 Kalorien. Im August 1945 galten die Verpflegungssätze im Landkreis Mannheim als die niedrigsten in der US-Zone.

Verbesserungen wären möglich gewesen, wenn Treibstoff für Fahrten in Überschussgebiete zur Verfügung gestanden hätte, aber selbst dann wäre es schwierig gewesen, Schlachtvieh, Getreide, Gemüse und Obst nach Weinheim zu holen, weil das Landesernährungsamt die dafür notwendigen Großbezugsscheine nicht ausstellte. Es verbot auch die Produktion von „Tauschware“, mit der man in Oberbayern Butter und Käse bekommen hätte, und verhängte Anfang August eine Ausfuhrsperre von Obst aus Baden nach Hessen. Die Reaktion des Kreises Bergstraße erfolgte prompt: keine Lageräpfel aus dem Odenwald, die im Blick auf den nächsten Winter vor allem in Mannheim so dringend gebraucht wurden.

„Die täglich aus allen Schichten der Bevölkerung einlaufenden Anträge auf zusätzliche Nahrungsmittel illustrieren am besten die ungenügende Versorgungslage“, berichte Brück an die Militärregierung. Die Unterversorgung der Bevölkerung nahm in jedem Wochenbericht einen breiten Raum ein, aber auch die Klage über die hohe Zahl von Felddiebstählen, denen Schutzpolizei und Feldhut „machtlos“ gegenüüberstanden, wie es Polizeichef Hermann Langer formulierte. Die Diebe kamen mit der OEG in Gruppen und plünderten die erntereifen Felder und Gärten, frühere Zwangsarbeiter zogen sich US-Uniformen über und attackierten kontrollierende Polizeibeamte, aber auch US-Soldaten steuerten ihren Jeep auf die Allmendäcker oder ins Kirschbaum-Gewann und holten sich, wonach ihnen gerade gelüstete. Erst der von Langer geforderte Einsatz von Streifen der Militärpolizei verringerte die Zahl der Felddiebstähle, an denen natürlich auch Weinheimer beteiligt waren, denn auch sie suchten „Nahrungsergänzungen“.

Furcht vor Typhus

„Der Gesundheitszustand der Bevölkerung ist gefährdet durch die ungenügende Ernährung“, berichtete Bürgermeister Brück am 10. August 1945 und verwies darauf, dass in einer nicht näher genannten Nachbargemeinde Hungertyphus ausgebrochen sei. Es werde auch in Weinheim eine Typhus-Epidemie entstehen, wenn nicht bald eine Verbesserung der Ernährungslage erfolge. In erster Linie müsste dazu die Fettration erhöht werden, mahnte Brück an einem Tag, an dem in Friedenszeiten die Kerwe als größtes Weinheimer Volksfest begann. Doch nach Feiern war 1945 niemandem zumute. Die Weinheimer hungerten, sie hatten ihre Wohnungen räumen müssen für Besatzungsangehörige und sie suchten als Neubürger Unterschlupf und Anschluss.

Mit 4.000 amerikanischen Soldaten hatte Weinheim die stärkste Belegung aller vergleichbaren Städte in Baden-Württemberg, 3.000 befreite Zwangsarbeiter erwarteten und erhielten besondere Betreuung, 2.000 Heimatvertriebene wurden eingewiesen, rückkehrende Wehrmachtsangehörige und hier gestrandete Bahnreisende mussten verpflegt und untergebracht werden. Spannungen konnten da nicht ausbleiben, vor allem, wenn in beschlagnahmten Häusern Einrichtungsgegenstände und Wäsche „sichergestellt“ wurden. Oder wenn GI’s trotz „Off Limits“-Schildern in den Hühnerfarmen Eier und Hühner forderten.

Bilder jener Tage

Die Weinheimer Zweigstelle der Milchzentrale Mannheim.
Seit 1940 sammelte die Milchzentrale Mannheim in ihrer dem Hexenturm gegenüberliegenden Zweigstelle Milch, doch im Sommer 1945 kamen manche Landwirte ihrer Ablieferungspflicht nur zögerlich nach Deshalb wurden Stallkontrollen eingeführt. Bild: Stadtarchiv

Zu den Bildern jener Tage gehörten ehemalige Mitglieder der NSDAP bei Straßenarbeiten oder bei der Kartoffelkäfer-Bekämpfung, hilflose Rettungssanitäter, deren „Sanka“ ohne Benzin liegen geblieben war, hilflose Ärzte auch im Städtischen Krakenhaus, in den Ausweich-Krankenhäusern im „Waldschloss“ und in der Kreispflege oder in der Privatklinik Hochgeschurz, wenn die bei Merck in Darmstadt oder bei den IG Farben in Bad Homburg mögliche Beschaffung dringend benötigter Medikamente und Verbandsmaterials am Benzinmangel scheiterte. Die Industrie litt stark unter dem Mangel an Kohlen und Rohstoffen und wünschte sich, dass die Amerikaner den Güterbahnhof wieder freigeben würden.

Aber es gab auch aufmunternde Nachrichten. Die Stadtwerke lieferten, zunächst unter Leitung von C.G. Müller, dann von Bernhard Jöst, meist störungsfrei Wasser, Gas und Strom, bis der heiße Sommer die Wasservorräte völlig erschöpfte und die Brandreserven angegriffen werden mussten. Der städtische Schlachthof produzierte, auch für Mannheim, Fleisch in bescheidenen Mengen und sorgte für Stangeneis zur Aufbewahrung von Gütern aus weiten Hamsterfahrten oder erfolgreichen Tauschaktionen. Mancher bekam auch sein Fahrrad zurück, wenn die Schutzpolizei Razzien in den Unterkünften der „Displaced Persons“ durchführte, wie die ehemaligen Zwangsarbeiter nun genannt wurden.

„Bekämpfung des Schleich- und Schwarzhandels und Wiederbeschaffung von Plünderungsgut“ waren vordringliche Aufgaben der Polizei, von der freilich oft mehr erwartet wurde als sie leisten konnte. Sie sollte auch dafür sorgen, dass die Bauern ihre Milch in der neuen Molkerei ablieferten und die Obstzüchter ihre Früchte am Obstgroßmarkt, weil manche von ihnen private, besser bezahlende Empfänger mehr schätzten als die Sammelstellen.

Licht am Ende des Tunnels war im heißen Sommer 19435 noch lange nicht zu erkennen.

(2020)

Bilder: WN-Archiv