Aus der Geschichte der Bahnhofstraße

Vom Hohlweg über die Villenstraße zur Geschäftsmeile

Das Forstamt in der Bahnhofstraße
Das alte Forstamt mit der baumbestandenen Bahnhofstraße, umgeben von einem Arboretum, in dem gepflegte Kulturen für dendrologische Studien wuchsen. Rechts das Gesellschaftshaus der Casino-Gesellschaft, Weinheims ältestem Verein.

von Heinz Keller

Die Bahnhofstraße als baumbestandene Allee und Villen aus der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: dieses Idyll gab es noch bis in die 1950-er Jahre. 1955 schickte sich die gerade 1.200 Jahre alt gewordene Stadt Weinheim an, die Bahnhofstraße zur Geschäftsstraße zu machen. Den Durchbruch schaffte das Kaufhaus Jacob. Am Fuß des heutigen innerständischen Einkaufs-T, auf der Ecke Bismarckstraße/Bahnhofstraße, übernahm Philipp Jacob 1957 das bis dahin dem Staatlichen Forstamt als Dienstsitz dienende Gebäude und schuf hinter einer Aluminiumfassade und in einem Neubauteil sein Kaufhaus, das ein knappes halbes Jahrhundert später dem heutigen City-Center weichen musste.

Als 2001 die neugestaltete Bahnhofstraße nach 13 Monaten Umbauzeit gefeiert wurde, erinnerte sich mancher Weinheimer daran, dass der Wettbewerb um die Verlegung des Forstamtes und die Freigabe des Areals als Baugrund für Geschäftshäuser bereits 1949 von einem anderen Weinheimer Kaufmann angestoßen worden war, der, wie Philipp Jacob, viel für die Anziehungskraft des innerstädtischen Einkaufszentrums getan hat. Karl Birkenmeier wollte an der Ecke Bahnhofstraße/Bismarckstraße schon damals ein Kaufhaus mit einem Kino kombinieren. Birkenmeier scheiterte und orientierte sich in Richtung „Vier Jahreszeiten“. Sein Lebenswerk, auf dem alten Hotelareal entstanden, wurde am Tag vor der Einweihung der neugestalteten Bahnhofstraße endgültig geschlossen.

Vor nicht einmal 200 Jahren

Wer heute in einem der zigtausend Fahrzeuge sitzt, die täglich über den sogenannten Postknoten rollt, kann sich kaum vorstellen, dass dieser heute verkehrsreichste Bereich Weinheims vor noch nicht einmal 200 Jahren außerhalb der Stadt lag.

Jahrhunderte lang hatte sich Weinheim mit dem Zusammenwachsen der beiden Siedlungskerne um die Peterskirche und dem Marktplatz von Norden nach Süden entwickelt. Deshalb mussten sich Weinheim-Besucher und Durchreisende auf dem Weg von Heidelberg nach Darmstadt auch jahrhundertelang am Rosenbrunnen auf den buckligen Weg über die heutige Prankelstraße zum Marktplatz und über den Steinweg (heute Hauptstraße) zur Weschnitzfurt an der Alten Post machen. Erst in den Jahren 1829 bis 1833 wurde zwischen dem Rosenbrunnen und dem Hotel „Pfälzer Hof“ (heute Stadthalle) die Bergstraße und die Steinerne Weschnitzbrücke gebaut, erst 1846 wurde Weinheim Eisenbahnknotenpunkt und erhielt einen Bahnhof.

Ein riesiger Weinberg

Wer diesen Bahnhof vor 150 Jahren verließ, musste glauben, dass der Stadtname vom Wein kommt, denn vor ihm breitete sich ein riesiger Weinberg aus. Er gehörte dem Essigfabrikanten Ludwig Klein – von ihm hat die Ludwigstraße ihren Namen – und breitete sich über das gesamte Gelände zwischen der unteren Bahnhofstraße und der Werderstraße aus.

Auf der Anhöhe, die heute aus der Bahnhofsanlage zur OEG-Brücke hinaufführt, stand bis ins ausgehende 18. Jahrhundert der steinerne Galgen als Zeichen städtischer Gerichtsbarkeit. Der Volksmund nannte die Gerichtsstätte im Gewann Hochgericht Galgenbuckel. 1869 wurde hier das Denkmal für Lambert Freiherr von Babo errichtet, das 1912 in den Stadtgarten verlegt wurde.

1892 erbaute Ludwig Klein das Kaiserliche Postamt, auf das sich bis heute der Namen Postknoten bezieht, auch wenn vom Kaiserlichen-, Reichs- und Bundespostamt seit 1991 nichts mehr zu sehen ist.

Ursprünglich ein Hohlweg

Wie die Friedrichstraße, die die Weinheimer Hohlweg nannten, und die Luisenstraße, die Wiesgass’ hieß, war die heutige Bahnhofstraße einer jener Hohlwege, die von der Stadt hinab in die Ebene führten und von den Bauern als Zufahrt zu ihren Äckern genutzt wurden. Schafhofweg wurde die heutige Bahnhofstraße genannt nach dem ehedem kurfürstlichen Schafhof, der im heutigen Bereich von Haganderpark und Volksbank nach der kurfürstlichen Zeit mit Wohngebäuden, Stallungen und Scheunen von der Stadt Weinheim betrieben wurde und bis 1803 auch den städtischen Farrenstall beherbergte. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde der Schafhof abends mit einem mächtigen Holztor verschlossen.

Erster Nachbar des städtischen Schafhofs und des zuvor schon an der neuen Bergstraße errichteten Gasthofs „Zum goldenen Bock“ wurde 1877, inmitten eines Weinbergs, der Tuchhändler Josef Merkle. Er baute die Villa, die 1913 von Julius Hirsch und 1938 von Julius Hagander erworben wurde und heute zum Volksbank-Komplex gehört.

Nach dem Bau der Bismarckstraße wurden auch der Ziegeleibesitzer Michael Kinscherf und der Kaufmann Karl Eduard Sillib Anwohner der Bahnhofstraße. Die Villa Kinscherf-Schulz, die jahrelang die Reichsbank-Nebenstelle beherbergte, wurde 1959 abgerissen und 1960 durch den Neubau der Volksbank-Zentrale ersetzt, aus der Villa Sillib wurde 1901 das Forstamt, 1957 das Kaufhaus Jacob.

Bahnhofstraße/Ecke Bismarckstraße.

Bevor die Bismarckstraße angelegt wurde, gehörte das gesamte Gelände zum kurfürstlichen, später städtischen Schafhof und Farrenstall. Die erhöhte Lage des Schafhofs und der Einschnitt des Schafhofweges machten beim Bau der Bahnhofstraße erhebliche Erdbewegungen nötig, denn es musste in etwa die Höhenlage der Bismarckstraße erreicht werden.

Villen- und Bankenstraße

Auf der Nordseite der Bahnhofstraße, die als Hohlweg ursprünglich tief lag und aufgefüllt werden musste, steht seit 1861 das Gesellschaftshaus der Casino-Gesellschaft, des ältesten Weinheimer Vereins. Auf dem Gelände des heutigen Ehrenmals, des Bürgerparks und des benachbarten Geschäftshauses hatte Stefan Artaria, Sohn des in ganz Europa bekannten Mannheimer Kunsthändlers Dominik Artaria, 1851/52 in italienischem Landhausstil seine Villa errichten lassen, die die Weinheimer sofort „das gelbe Haus“ nannten. Es wurde zum Treffpunkt berühmter Zeitgenossen. Victor von Scheffel und der berühmte Heidelberger Arzt und Dichter Adolf Kussmaul weilten oft hier. Nach den Artarias wurde Dr. Friedrich Freiherr von Schwartzkoppen, Minister unter Herzog Adolf von Hessen-Nassau, Hausherr und verwandelte den großbürgerlichen Garten in einen herrschaftlichen Park. 1897 verkaufte er den nördlichen Teil seines Anwesens an die Stadt Weinheim als Baugelände für das neue Realprogymnasium, das heutige Werner-Heisenberg-Gymnasium. Sein Erbe, General Max Freiherr von Schwartzkoppen, als Attaché der Deutschen Botschaft in Paris in die „Affäre Dreyfus“ verwickelt, verkaufte das übrige Gelände 1912 an die Stadt Weinheim, die 1913 den Bürgerpark anlegte. Die Villa Artaria wurde nun Dienstsitz der Weinheimer Oberbürgermeister.

Das gelbe Haus in der Bahnhofstraße. Das gelbe Haus in der Bahnhofstraße, eine andere Perspektive.

Das Stadtoberhaupt wohnte im Gelben Haus. Erst Fabrikanten-Villa, dann Bankgebäude.

Die für Fabrikbesitzer Adam Platz, Teilhaber der Maschinenfabrik Badenia und Schöpfer der Weinheimer Anlagen, 1881 neben dem „Gelben Haus“ errichtete Villa mit dem reizvollen Fachwerkgiebel, wurde 1911 eine Filiale der Rheinischen Creditbank und ist nach zahlreichen Namensänderungen seit 1957 in einem neuen Gebäude eine Filiale der Deutschen Bank. Auch die Platz’sche Villa war in einem der Weinberge errichtet worden, die seit altersher den Schafhofweg bis „zur Stadt“ begleiteten.

Wichtige Ost-West-Verbindung

Der alte „Schoofhofweg“ war für die Bauern die wichtigste Verbindung zu ihren Äckern und Wiesen in der Ebene. Nach dem Bau der Main-Neckar-Bahn wurde er mit dem schienengleichen Übergang in die damalige Mannheimer- und heutige Viernheimer Straße geführt, die damalige Direktverbindung nach Viernheim und Mannheim. Das blieb so bis zum Bau der ersten OEG-Brücke 1912.

Die zentrale Bedeutung der Bahnhofstraße, die 1887 mit der großen Straßentaufaktion des Gemeinderats den heutigen Namen erhielt, erkannte schon vor 130 Jahren der Baugeometer Hout aus Schwetzingen. Er entwarf 1873 den Bebauungsplan für die erste große Stadterweiterung westlich der bis dahin geltenden Baugrenzlinie Rote Turmstraße, Institutstraße, Hauptstraße, Erbsengasse und Untergase, aus der allein die Alte Postgasse heraussprang.

Die Bahnhofstraße von Westen.

Die Bahnhofstraße führte einst schnurgerade von der Hauptstraße über die Bahnschienen nach Westen. Die historische Aufnahme aus der Zeit vor dem Bau der OEG-Brücke 1912, mit der der Weg nach Viernheim und Mannheim leichter wurde, zeigt links das Fotohaus Braun, dahinter den Telegrafenturm des Kaiserlichen Postamtes, rechts die Villa von Philipp Platz.

Hout plante großzügig

Als Houts Plan 1875 genehmigt wurde, konnte die ungewöhnlich breit angelegte Bahnhofstraße gebaut werden, über die noch in den 1920-er Jahren die Lehrerin Amalie Horn ihren Viertklässlern erklärte: „Wenn Ihr Euch die großen Straßen in unserer Hauptstadt Karlsruhe vorstellen wollt, dann denkt an unsere Bahnhofstraße“.

Villen auch auf der Südseite

Auch auf der Südseite der Bahnhofstraße entstanden um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit dem Aufschwung Weinheims zum Industriestandort die Villen erfolgreicher Unternehmer. Gegenüber dem Babo-Denkmal, das nach alten Berichten von dichten Fliederbüschen umgeben war, und von Liebespaaren als lauschiges Plätzchen geschätzt wurde, stand, mit Postanschrift Heidelberger Straße 126, die Villa Knoblauch in parkähnlicher Anlage. Gottlieb Wilhelm Knoblauch war ein weit gereister Amerikaner, der gern mit den Weinheimern sprach und ihnen die abenteuerlichsten Geschichten seiner Seereisen erzählte. Von seiner Witwe und seinen Kindern erwarb Sigmund Hirsch, Gründer der Lederwerke Hirsch, 1885 die Villa und gab sie 1909 an seinen Sohn Max weiter. Die einstige Knoblauch-Villa wurde damit eine von vier Hirsch-Villen, die die jüdische Unternehmerfamilie 1938 zurücklassen musste.

Neben der Knoblauch-Villa errichtete Kommerzienrat Philipp Platz, Sohn des Gründers der Maschinenfabrik Badenia, etwas erhöht 1888 sein spätklassizistisches Haus (heute Ärztehaus). Er wohnte hier mit seiner Familie, zu der neben sechs Töchtern auch der Sohn Wilhelm gehörte, der mit Erfindungen zum Wissenschaftler und Ehrendoktor der TH Karlsruhe, mit Romanen und Gedichten zum Poeten wurde. Viele seiner Gedichte hat Wilhelm Platz vertont, darunter das Preislied auf den Odenwald, dessen Text den Odenwaldstein ziert, der zu Ehren von Wilhelm Platz an der Wachenburgstraße errichtet wurde. 1911 erbaute Wilhelm Platz an der Luisenstraße eine eigene Villa für seine Familie.

Platz-Nachbar an der Bahnhofstraße war der Kaufmann Heinrich Winteroll, Mitinhaber der Firma Winteroll & Ehret. Am unteren Ende des heutigen Hutplatzes, bei der Einmündung der Mittelgasse in die Hauptstraße, war das Kolonialwarengeschäft eine gute Adresse, vor allem in der Fastenzeit, wenn es die stets frisch gewässerten Stockfische gab.

Hausgebrautes unter Kastanien

Das ehemals Winterroll’sche Anwesen an der Bahnhofstraße hinter der jetzigen Ladenreihe hat einen bis heute äußerlich annähernd unveränderten Nachbarn: die Gaststätte „Zum Bierkeller“. Ihre steile Treppe und die alten Kastanienbäume im Biergarten haben Generationen von Durstigen angezogen. 1862 hatte der Bierbrauer Friedrich Kinscherf zwischen Wiesgasse und Schafhofweg auf einem Weiberggelände einen Bierkeller mit Wirtschaft und Saal errichtet. Brauerei und Gaststätte kamen später in den Besitz der aus Dossenheim stammenden Bierbrauerfamilie Mühlbauer. Am Ende des Zweiten Weltkriegs suchten viele Nachbarn Schutz im tiefen Keller.

Bierkeller-Nachbarn waren, im Haus der heutigen Geiß’schen Apotheke, Stadtbaumeister Kessler und nach ihm der Physikus Carl Schellenberger. Er war Großherzoglicher Bezirksarzt für die Bergstraßen-Orte zwischen Laudenbach und Leutershausen. Schellenberger wurde später der Titel Medizinalrat verliehen. Damit wurde anerkannt, dass er die Gemeinden seines Amtsbezirks zum Bau von Wasserleitungen gedrängt hatte, nachdem manche Brunnen von Jauche verseucht worden waren. Im Hause Schellenberger praktizierten später auch der Volksarzt Dr. Hermann Hausmann, sein jüdischer Schwiegersohn Dr. Friedrich Reis, der schon 1936 nach Israel auswanderte, wo seine Frau an nagendem Heimweh starb, und schließlich Dr. Karl Schlegtendal.

Reben hinter Mauern

Das „Blaue Haus”, Stammsitz der Bezirkssparkasse.

Der Aufstieg der Bezirkssparkasse zum führenden Geldinstitut im Raum Weinheim begann in dieser Villa, die heute Blaues Haus heißt.

Vom Anwesen Schellenberger bis zur Einmündung der Luisenstraße in die Bahnhofstraße erstreckte sich eine lange und hohe Mauer. Dahinter verbargen sich ertragreiche Weinberge. Neubauten öffneten auch hier den Blick: 1892 erwarb die Städtische Sparkasse Weinheim das stattliche Anwesen (heute Blaues Haus) von Maler- und Tünchermeister Peter Schmich und machte es zu ihrem Hauptsitz, 1908 wurde die neue Gewerbeschule (heute Uhlandschule) gebaut.

Die Reichsbank schuf sich im heutigen Haus der Volkshochschule an der Ecke Bahnhofstraße/Ehretstraße ein neues Domizil und verabschiedete sich 1969 als Zweigstelle der Landeszentralbank aus Weinheim. 1956 wechselte die Bezirkssparkasse in ihren Bankneubau, der 1998 vom heutigen Atrium ersetzt wurde und, zusammen mit dem Karlsberg-Carré, den Wandel von der Villenstraße zur Geschäftsstraße dokumentiert.

 

Einst Reichsbank, heute VHS

Einst Reichsbank, heute vhs.

Weinheims zweitälteste Villa

Die ehemalige Villa Hübsch

Mitten in den Reben stand einst auch die von Heinrich Hübsch für seinen Schwager Dr. Ludwig Bender erbaute Villa.

Die 1836 von dem großherzoglich-badischen Residenzbaumeister Heinrich Hübsch für seinen Schwager Dr. Ludwig Bender, praktischer Arzt und Begründer der Wasserheilanstalt im Gewann Sand, errichtete Villa aus rotem und gelbem Sandstein galt als die nach dem Hermannshof älteste Villa Weinheims. Nach Dr. Bender bewohnten sie die Familien von Babo und Dr. Emil Dünow. 1930 erwarb Bauunternehmer Armin Hördt das Anwesen, dessen Gewölbe im Zweiten Weltkrieg neben dem Bierkeller der sicherste Schutzraum an der Bahnhofstraße war. 1992 wurde das einst mitten in Reben stehende Villengebäude abgerissen.

Den Endpunkt der Südseite der Bahnhofstraße bildet das Textilhaus Zinkgräf (heute Parfümerie Douglas). In dem langgestreckten Bau soll der Kupferschmied Schäfer, so wird berichtet, nicht nur ein tüchtiger Handwerker, sondern auch ein begnadeter Sänger gewesen sein, der seine Arbeit stets mit fröhlichem Gesang begleitete.