Fußgängerzone: Seit 50 Jahren gehört sie den Fußgängern
von Heinz Keller
Alle Beiträge in diesem Zeitungsarchiv sind erstmals in den Weinheimer Nachrichten erschienen. Die Veröffentlichung auf der Internetseite des Weinheimer Museums erfolgt mit der Zustimmung der DiesbachMedien GmbH.
Fußgängerzonen sind innerstädtische Baumaßnahmen der Nachkriegszeit, oft entstanden beim Wiederaufbau zerstörter Innenstädte. In Deutschland wurde am 9. November 1963 die Treppenstraße in Kassel für den Fußgängerverkehr eröffnet und gilt als erste deutsche Fußgängerzone. Sie ging aus einem Wiederaufbau-Wettbewerb von 1947 hervor, da die Kasseler Innenstadt von Bombenabwürfen stark beschädigt war. Weitere Städte folgten in den 1950-er, hauptsächlich aber in den 1960-er Jahren.
In Weinheim eröffnete Oberbürgermeister Theo Gießelmann am 29. November 1974 für das 220 Meter lange und 10 Meter breite Teilstück der Hauptstraße zwischen dem Hotel Karlsberg (heute Grimminger) und dem Hotel „Grüner Baum” einen verkehrsfreien Fußgängerbereich. Kaum eine andere städtische Baumaßnahme hatte zuvor so viel bürgerschaftliche Anteilnahme gefunden wie der Ausbau der Fußgängerzone. Es hatte viele Argumente dafür gegeben und viele dagegen, es war darüber geschimpft worden, dass der Gemeinderat 350.000 DM dafür bewilligt hatte, erleichtert war aber auch anerkannt worden, dass sich im Herzen der Stadt endlich etwas tat in Zeiten, da allerorten die Einkaufsmärkte wie die Pilze aus dem Boden schossen und dem gewachsenen regionalen Einkaufszentrum Kunden wegnahmen.
Probesperrung im Advent 1971
Geändert hatte sich allerdings schon 1971 etwas, als die Hauptstraße zwischen den Einmündungen der Institutstraße und der Grabengasse an den Advent-Wochenenden probeweise für den Durchgangs. und Anliegerverkehr gesperrt worden war. Aber nach Weihnachten 1971 war die Hauptstraße wieder in den Alltag zurückgekehrt. Autos fuhren wieder und parkten direkt vor den Geschäften, der „Rimbacher Seppl“, zwischen 1926 und 1967 stadtbekannter Güterbestätter der Firma Gebrüder Busch mit bürgerlichem Namen Josef Diehn, schimpfte, wenn er für Max und Bärbel, seine stattlichen Rösser, keinen Halteplatz fand, um die Sendungen an die Geschäfte auszuladen, während sein Gespann zugleich in der einbahnigen Hauptstraße zum Verkehrshindernis wurde: „Die Gail war’n zuerscht do, lang vor dene Schtik-Äisel“. Und die Fußgänger hatten wieder Angst, im falschen Moment vom Fußweg auf die Straße zu treten. Weinheim war noch nicht (ganz) reif für die Erkenntnis der Großstädte, dass die Innenstadt der Zukunft nicht autogerecht sein kann, sondern fußgängergerecht werden muss. Noch gab es Einzelhändler, die ihre Abneigung gegen eine verkehrsfreie Einkaufsstraße unmissverständlich kundtaten: „Für die paar Leutchen, die hier herumlaufen? Oder für die Kinder, damit sie Rollschuh laufen können?“, hieß es.
Doch der Wunsch nach einem Einkaufsbummel ohne Abgase und Unfallgefahren war nach der Probesperrung im Advent 1971 noch stärker geworden. Deshalb wurde ab 26. Juli 1972 die Hauptstraße zwischen „Karlsberg“ und „Grünem Baum“ verkehrsfrei gemacht, allerdings nur werktags zwischen 10 und 18.30 Uhr. Nach Geschäftsschluss, in der Nacht und sonntags kehrten die Autos in die Hauptstraße zurück. Im Oktober 1972 wurde die achteinhalb-stündige Sperrung auch auf den Sonntag ausgedehnt.
Innenstadt-Tangente
Bei dieser Regelung blieb es bis zum Herbst 1974, als der Umbau dieses Teilstücks der Hauptstraße mit der Beseitigung der Niveauunterschiede zwischen Gehweg und Fahrbahn ein klares Ziel verfolgte: eine Fußgängerzone ohne Autos. Vom Ratstisch waren zu diesem Zeitpunkt die Pläne zum Ausbau des innerstädtischen Straßennetzes, die „das Verkehrssystem im Innenstadtbereich nach modernen Gesichtspunkten“ gestalten sollten (Sitzungsvorlage für den Gemeinderat). Der Hintergrund: im Sommer 1972 wurde eine weitere West-Ost-Verbindung aus dem im Bau befindlichen Multring über Bundesbahn, B 3 und OEG in den Fabrikweg, durch die Babostraße zur Institutstraße diskutiert. Das setzte voraus, dass die Institutstraße so ausgebaut würde, dass sie den starken Verkehr aus der Weststadt aufnehmen und weiterführen konnte.
Kahlschlag verhindert
Diese Aufgabe sollte eine Innenstadt-Tangente vom Dürreplatz über Institutstraße, Mittelgasse und hintere Hauptstraße zur Müllheimer Talstraße erfüllen. Diese Änderungen am Verkehrssystem sollten auch die Voraussetzungen zur Einrichtung einer Fußgängerzone zwischen „Karlasberg“ und „Ratskeller“ sein. Der Gemeinderat stoppte die Pläne, die gewaltige Eingriffe in die bestehende Bebauung notwendig gemacht hätten. Ein Forum der Volkshochschule machte den erbitterten Widerstand der Bürger gegen die brutale Schneise durch die Innenstadt deutlich. Das Plönlein, das der Tangente hätte weichen müssen, wurde zum Symbol des Kampfes um den Erhalt des Altstadt-Charakters. Weinheim behielt das Jahrhunderte alte städtebauliche Gefüge, das es bis heute so reizvoll macht.
Zwei Tage Volksfest
Die Eröffnung der Fußgängerzone am 29. November 1974 wurde mit einem zweitägigen Volksfest gefeiert: mit Glühwein, Sekt und Freibier, Bockwurst, Erbsensuppe aus der Gulaschkanone und viel Musik von der Stadtkapelle und dem Spielmannszug Lützelsachsen. Die Einzelhändler verschenkten 10.000 Nelken, die dem Birkenmeier-Chefdekorateur Ferdi Gamer förmlich aus den Händen gerissen wurden. Auch Konditormeister Hermann Krautinger hatte alle Mühe, seine frisch gebackenen Kräppel heil über die Straße zu bringen, und Metzgermeister Heinrich Pflästerer, der sich bei den Musikern mit „Weck un Worscht“ bedanken wollte, kam meist mit leerem Tablett bei ihnen an.
Neues Pflaster aus China
Die Fußgängerzone verschenkte allerdings nicht nur einen sorglosen Schaufensterbummel, sondern wurde auch bald zu einem Ärgernis, als Zigarettenkippen und Kaugummireste den Belag verschmutzten und liebevoll gestaltete Blumenkübel immer wieder ihres Schmucks beraubt und zerstört wurden. Gleichzeitig erinnerte der Untergrund der historischen Fernstraße immer öfter daran, dass es an der Zeit sei für grundlegende Sanierungen und Modernisierungen. Die Sanierungsabschnitte zur Kanalerneuerung und zur Neupflasterung wurden 2011/2012 für die Geschäftsinhaber zu einer Gedulds- und Belastungsprobe, auch wenn die Baufirma beim Verlegen der hochwertigen rötlichen Naturstein-Pflastersteine aus China alles taten, um die Geschäftszugänge möglichst freizuhalten. Als das Kalenderblatt den 4. August 2012 anzeigte, pries City-Managerin Maria Zimmermann die neue Fußgängerzone als „die schönste in der ganzen Region“ und Heinrich Pflästerer servierte auf dem Gelände, auf dem seine Ahnen einst gelebt und gearbeitet hatten, zum Abschluss der Sanierung und Neuausstattung „Woinemer Burger“, die für wohl für eine schmackhafte Verbindung von Tradition und Fortschritt standen.
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