Das Gymnasium

Die Benderszippel waren wieder Gymnasiasten

Gymnasium Weinheim: Blick vom Schulhof auf die auch als Aula genutzte Turnhalle
1946, beim Auszug der amerikanischen Besatzung bot das bei seiner Einweihung als „das schönste Schulgebäude im Lande des Großherzogs” gefeierte Schulhaus einen jammervollen Anblick. Bild: WN-Archiv

von Heinz Keller

Vier Monate nach der Volksschule konnte auch das Realgymnasium am 15. Januar 1946 den Nachkriegs-Unterricht aufnehmen. Anfang März 1945 war der häufig von Fliegeralarm unterbrochene Unterricht an der Benderschule kriegsende-bedingt eingestellt worden. Nach dem Einmarsch der Amerikaner am 28. März war das Schulgebäude an der Friedrichstraße mit einst zwangsverpflichteten, nun wieder freien ausländischen Arbeitern beiderlei Geschlechts belegt worden, die ihre wiedergewonnene Freiheit ausgelassen feierten und nicht gerade pfleglich mit dem Inventar umgingen. Dann richteten die Amerikaner ein Lazarett für ihre Verwundeten und Kranken in den Klassenräumen ein. Als der Unterricht der Volksschule am 11. September 1945 in der Dürreschule unter größten Schwierigkeiten wiederaufgenommen wurde, gab es für die einstigen Benderschüler keine Schulräume, denn ihre Schule, volkstümlich „das Schiff”, blieb weiter besetzt.

Ende für „Benderschule”

Die bis dahin einzige Oberschule im Umland um Weinheim hatte allerdings inzwischen ihren seit 1937 geltenden Namen „Benderschule” verloren, weil die Namensgebung auf die Aufforderung des nationalsozialistischen badischen Ministers für Kultus und Unterricht, Karl Pflaumer, erfolgt war. Er hatte die vom NS-Reichserziehungsministerium erlassenen Bestimmungen zur Neuordnung des Höheren Schulwesens nach Weinheim weitergegeben. Danach sollte an die Stelle der alten Typenbezeichnung ein Namen treten, der entweder landschaftlich oder persönlich einen Bezug zur Schule hatte. Das Lehrerkollegium des Realgymnasiums Weinheim empfahl, „die Anstalt nach dem langjährigen und verdienstvollen Leiter der Privatanstalt zu nennen, aus der unsere Schule hervorgegangen ist”. Der Namensvorschlag „Dr. Bender-Schule, Oberschule für Jungen” – in Erinnerung an das international bekannte Bender’sche Institut – wurde akzeptiert und galt bis Kriegsende 1945. Im Volksmund blieben die Oberschüler, was sie seit dem Bender’schen Institut waren: die Benderszippel, was gern auf das lateinische Wort discipuli = Schüler zurückgeführt wird.

Neustart in der Nordstadt

Nach zehnmonatiger Zwangspause wurde am Realgymnasium Weinheim der Nachkriegsunterricht aufgenommen: nicht im eigenen Schulgebäude, auch nicht im „Exil” der Diesterwegschule, wo von 1943 bis 1945 der Unterricht stattgefunden hatte, nachdem die Benderschule ihr Schulhaus für die in Mannheim ausgebombte Firma BBC hatte räumen müssen, sondern in den Räumen der Friedrichschule. Viele der 689 Schüler hatten fortan täglich einen weiten Fußweg in die Nordstadt – ein „Taxi Mama” gab es noch nicht und eine Anfahrt mit dem Fahrrad hing oft davon ab, ob man „Beziehungen” hatte zur Weinheimer Gummifabrik und zu ihren Fahrrad-Schläuchen und -Mänteln.

Portraitfoto Dr. Hans Pfeiffer
Dr. Hans Pfeiffer

Knapp zwei Dutzend Lehrer erwarteten ihre Schüler im kalten Januar 1946 in den oft ebenso kalten Räumen der Nordstadtschule zum Schichtunterricht. Die meisten Professoren, wie die Gymnasiallehrer damals angesprochen wurden, waren die der Kriegsschuljahre, einige fehlten wegen politischer Vorbehalte der Militärregierung. Aber der „Rex” war neu. Die Amerikaner hatten dem bisherigen Direktor Robert Mangelsdorf die Schulleitung entzogen und sie dem früheren Zentrumspolitiker Dr. Hans Pfeiffer übertragen, weil sie glaubten, dass der Leiter einer Höheren Schule im „Dritten Reich” nur ein Nazi gewesen sein konnte. Dass sie damit Robert Mangelsdorf, dem Schulleiter von 1940 bis 1945, Unrecht taten, machte der zurückgestufte 63-Jährige auch in der Nachkriegszeit mit unverdrossenem Engagement für seine Schule und die Stadt Weinheim deutlich. Seit langem trägt einer der Abiturientenpreise des Werner-Heisenberg-Gymnasiums den Namen von Robert Mangelsdorf, dessen kommunalpolitisches Wirken als Stadtrat und als Vorsitzender des Jugendherbergswerks mit der Bürgermedaille und dem Bundesverdienstkreuz gewürdigt wurde.

Große Altersunterschiede

Die Altersunterschiede in der Schülerschaft waren 1946 ungewöhnlich groß, denn viele junge Männer, die in den letzten Kriegsjahren das Notabitur abgelegt hatten, kehrten als dekorierte Offiziere aus dem Kriegsdienst auf die Schulbank zurück, um zum Studienbeginn ein „echtes Abi” vorweisen zu können. Auf die Schulbank zurück kehrten auch die Luftwaffenhelfer, die in Mannheim an den Flugabwehrkanonen der Flakbatterien einen aussichtslosen Kampf gegen die angloamerikanischen Geschwader geführt hatten, und die Fünfzehnjährigen, die am Kaiserstuhl Panzergräben „für den Endsieg” geschippt hatten, dazu die Mädchen, die in den Weinheimer Fabriken Männerarbeiten übernommen hatten. Neu waren Schüler, die in Mannheim ausgebombt worden waren und an der Bergstraße Zuflucht gefunden hatten, und Schüler, deren Heimat man bisher nur aus dem Geographie-Unterricht kannte: Flüchtlinge und Heimatvertriebene. Sie alle hatten ein Jahr Schulbildung an die Zeitereignisse verloren.

Improvisieren gefragt

Wenn heute von Hybrid-Schuljahren, virtuellem Unterricht und Homeschooling gesprochen wird, können sich weder Schüler noch Eltern, aber vielleicht die Großeltern vorstellen, dass 1946 Texte auf die Tafel geschrieben und von dort abgeschrieben wurden, weil Bücher, die zwischen 1933 und 1944 gedruckt worden waren, als Unterrichtsmaterial nicht erlaubt waren und neue wegen Papiermangels nicht gedruckt werden konnten. Es gab keine Hefte und die meisten Schüler schrieben auf die Rückseite alter Rechnungen oder in Hefte, die sie sich selbst zurechtgeschnitten hatten. Und zu allen Schwierigkeiten kam, dass im Nachmittagsunterricht oft der Strom ausfiel und der Lehrer froh war, wenn einer seiner Schüler eine Kerze mitgebracht hatte. Von den Lehrern der ersten Nachkriegsstunde wurde Improvisationsvermögen verlangt.

Der „Glockenschwinger”

Nach den Osterferien 1946 kehrten die Gymnasiasten in ihr „Schiff” zurück, das durch die Besetzung schweren Schaden genommen hatte. Zerstört war auch das Läutewerk der Schule, das jahrzehntelang zu den Pausen geläutet hatte. Bis 1948 ging „Glockenschwinger” Walter Jacob durch die Flure und schwang die Schelle zum Ende und zum Beginn der Unterrichtsstunden: oft ein bisschen früher zum Unterrichtsende, oft ein paar Minütchen später zum Beginn der nächsten Stunde. Lehrer wie Professor Emil Maenner, der Verseschmied unter ihnen, namen’s mit Humor: „Die zwei dazu, die zwei hinweg. Das waren vier – das war der Zweck. Was doch der Mensch nicht alles tut, wenn er ist edel, hilfreich, gut!”.

Nochmals umziehen

In den Sommerferien 1946 beanspruchten die Amerikaner das Schulgebäude des Gymnasiums erneut für sich und wieder mussten die Schüler umziehen. Sie kehrten zurück in die Diesterwegschule, wo sie bereits von 1943 bis 1945 zu Gast waren. Erst zu Ostern 1947 war das historische Schulhaus an der Friedrichstraße, 1901 bei seiner Einweihung als „das schönste Schulgebäude im Lande des Großherzogs” gefeiert, wieder das Ziel der Oberschüler aus Weinheim, von der Bergstraße und aus dem Odenwald. Unterrichtsausfall wurde nun seltener, weil zahlreiche jüngere Lehrer aus Kriegsgefangenschaft zurückkehrten und die ersten Uni-Absolventen zur Verfügung standen. Und das Lehrerkollegium der „Oberschule für Jungen” wurde weiblicher. Die unverheirateten Pädagoginnen wurden jedoch noch lange als „Fräulein” angesprochen, ehe der damalige Bundesinnenminister Hans Dietrich Genscher 1971 anordnete, sie mit „Frau” anzusprechen. (2021)