Mit dem Blechnapf am Ranzen zur Schule
Erinnerungen an die Hoover-Speisung in den ausgehenden 1940-er Jahren
von Heinz Keller
Alle Beiträge in diesem Zeitungsarchiv sind erstmals in den Weinheimer Nachrichten erschienen. Die Veröffentlichung auf der Internetseite des Weinheimer Museums erfolgt mit der Zustimmung der DiesbachMedien GmbH.
„Negerbrabbel” gilt heute als rassistisches Unwort. In den ersten Nachkriegsjahren aber war das Wort, das einen braunen puddingartigen Brei beschrieb, in den etwas Kakaopulver gemischt war, das Synonym für ein großangelegtes amerikanisches Hilfsprogramm für untergewichtige junge Deutsche. Nach zwei Hungerwintern 1945/46 und 1946/47 hatten 36,4 Prozent aller Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen sechs und achtzehn Jahren ein erhebliches Untergewicht. Dadurch waren sie nicht nur anfälliger für Krankheiten, sie konnten sich auch im Unterricht schlechter konzentrieren und ermüdeten schneller. Besonders betroffen von den Folgen der Unterernährung waren die Kinder von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen.
Als ernährungspolitischer Berater des damaligen US-Präsidenten Harry S. Truman reiste im März 1947 einer seiner Amtsvorgänger, Herbert C. Hoover, US-Präsident von 1929 bis 1933, durch das zerstörte Deutschland und begegnete allerorten der Not der Kinder. Der Sohn einer Quäker-Familie und Urenkel eines aus dem Kraichgau eingewanderten Peter Huber, wollte schnell helfen. Deshalb empfahl er „eine tägliche Zusatzmahlzeit von 365 kcal für Kinder und alte Menschen aus Armeebeständen, ergänzt durch Fett und Fleisch aus dem deutschen Viehabbauprogramm”. Auf Hoovers Initiative geht zurück, dass ab 14. April 1947 in der amerikanischen und der britischen Zone aus den dafür bereitgestellten 40.000 Tonnen Lebensmitteln 3,5 Millionen Kinder und Jugendliche täglich mit einer warmen Mahlzeit versorgt wurden. Die Schülerspeisung wurde von den deutschen Ländern über die Kreise und Gemeinden organisiert und erhielt schnell den Namen „Hoover-Speisung”.
Zusätzlich 350 Kalorien
Die Schülerspeisung bestand aus einer warmen täglichen Zusatzmahlzeit mit einem Gehalt von etwa 350 kcal. Das entsprach, je nach Alter, zwischen 12 und 17 Prozent des täglichen Kalorienbedarfs. Die Spenden amerikanischer Hilfsorganisationen ermöglichten die Lieferung von Grundnahrungsmitteln wie Mehl, Zucker, Hülsenfrüchte und Trockenmilch, außerdem von Trockenfrüchten, Fleisch- und Gemüsekonserven, von Haferflocken, Reis, Nudeln und Gries. In Weinheim erklärte sich die Firma Freudenberg spontan bereit, das Essen für die Schüler in der Werksküche herzustellen. Es wurde dann in großen Kannen mit Fuhrwerken zu den Schulen gebracht. Die Lehrer und Helferinnen aus den Wohlfahrtsverbänden verteilten das Essen an die empfangsberechtigten Schüler.
„Für die Durchführung der Hoover-Kinderspeisung ist die Mitarbeit der Lehrerschaft erforderlich”, teilte der Präsident des Landesbezirks Baden am 3. Juni 1947 den Höheren Schulen, Handels- und Gewerbeschulen, Stadt- und Kreisschulen im amerikanisch besetzten Nordbaden mit. Außerdem solle in jeder Gemeinde, in der Kinder gespeist werden, bei der Verwaltung ein „Ortsausschuss Hoover-Speisung” eingerichtet werden. Bei der Stadtverwaltung Weinheim zeichnete Georg Meierhöfer für die „Abteilung Hoover-Speisung”.
Ungewohnte Lehrer-Aufgaben
„Es war nicht leicht, plötzlich die Speisung für 1.200 Kinder in Weinheim zu organisieren” sagte Rektor Heinrich Fath der Reporterin des „Weinheimer Morgen” – die „Weinheimer Nachrichten“ standen damals noch im Lizenzierungsverfahren – bei ihrem Besuch in der Friedrichschule, neben Diesterweg- und Pestalozzischule eine der drei Weinheimer Volksschulen. Ob die Weinheimer Lehrerschaft die zusätzlichen Aufgaben „freudig” erfüllte, wie es Rektor Albert Metzler den Kollegen in einem Rundschreiben des Schulamtes Weinheim am 12. Juni 1947 empfahl, ist nicht überliefert, aber es gibt Erzählungen, dass Ehefrauen von Lehrern damals klagten, ihr in Haushaltsdingen ungeübter Ehemann „verkleckere” bei der Essensausgabe oft den Anzug, der damals noch häufig mit Weste und Krawatte im Unterricht getragen wurde.
Auch die von der Staatlichen Schulverwaltung geforderte Ermittlung der Voraussetzungen für den Empfang einer täglichen Zusatzmahlzeit war für die Lehrer eine ungewohnte, fachfremde Aufgabe. In den Klassen sollten sie erfassen, wer an der Speisung teilnehmen durfte. Dazu mussten die Schüler von zuhause die Lebensmittelkarte mitbringen, um nachzuweisen, ob ihre Familie zu den Normalverbrauchern, Selbstversorgern oder Teilselbstversorgern zählte. Wenn die Familie einen Acker bearbeitete oder ein (Grund-)“Stick” und zusätzliche Lebensmittel ernten konnte, waren die Kinder ausgeschlossen von der Speisung. Erst recht Bauernhof-Kinder, die zu Hause Schlacht- und Milchvieh fütterten. Aber sie hatten ja die Möglichkeit, ihr Leberwurst-Pausenbrot gegen „Negerbrabbel” einzutauschen.
Gleichzeitig wollte das Landratsamt wissen, bei wem die häuslichen Voraussetzungen vorlagen, das Essen unentgeltlich zu empfangen. Bei der Bewertung sollte man großzügig sein, hieß es im Rundschreiben des noch in Weinheim residierenden Landratsamtes. Ansonsten wurden pro Mahlzeit 25 Pfennige von den Eltern erhoben.
„Gebote” für Lehrer
Im Stadtarchiv sind die Erinnerungen an die Jahre der Hoover-Speisung ziemlich spärlich. Sie beschränken sich im Wesentlichen auf die Organisation der Hilfsaktion. Um an ihr teilzunehmen, musste der Amtsarzt mindestens 15 Prozent Untergewicht feststellen. Auch für die Ausgabe des Essens, zu der die Schüler eigene Gefäße und Bestecke mitbringen mussten, gab es klare Vorschriften. Schüler mit Unterrichtsbeginn erst nach der großen Pause mussten bereits um 9.15 Uhr das Essen entgegennehmen und damit bis spätestens 9.45 Uhr fertig sein, weil dann die Nächsten aus dem Unterricht kommen.
Bei der Ausgabe der Speisung sollte streng darauf geachtet werden, dass das Essen gerecht verteilt wurde. Keiner sollte mehr, keiner weniger als der andere bekommen. Und: alles sollte aufgegessen werden. „Nur wenn offensichtlich ist, dass der Schüler seine Portion nicht schaffte”, durfte er den Rest mit nach Hause nehmen. Das passierte allerdings selten.
Der Biss in die Schokolade
An manchen Wochenenden erhielten die Schüler eine Tafel Schokolade. In einem Rundschreiben an die Lehrer der Pestalozzischule mahnte Rektor Matthes Siehl seine Kollegen, darauf zu achten, dass die Tafel in ihrer Gegenwart angebissen werden müsse. Damit sollte verhindert werden, dass die Schokolade im Schwarzmarkhandel landet.
Schüler, die am Ranzengurt ein ausgedientes Wehrmachts-Essgeschirr oder das alte „Essekändl” vom Vater oder einfach einen Blechnapf oder eine blank geputzte Konservendose hängen hatten, dazu einen Esslöffel am Band, gehörten in den ausgehenden 1940-er Jahren auch zum Weinheimer Stadtbild.
Hoover-Speisung in Zahlen
Monatlich meldeten die Schulen den Umfang der Schülerspeisung an die staatlichen Schulämter. Vom Juni 1947 sind die Dokumente im Stadtarchiv erhalten: Oberstudiendirektor Dr. Hans Pfeiffer berichtete für das Realgymnasium Weinheim, dass von den 731 Schülern 582 an der Speisung teilnahmen, davon 147 unentgeltlich. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum im Gymnasium 12.975 Mahlzeiten verabreicht, davon 3.582 unentgeltlich. Rektor Matthes Siehl meldete für den gleichen Zeitraum, dass in den drei Volksschulen Weinheims 2.837 Schüler unterrichtet und im Juni 1947 insgesamt 9.276 Essen ausgegeben wurden, davon 4.201 kostenlos.
Ein Wochen-Speiseplan
Im Stadtarchiv ist auch der Speiseplan für die erste Mai-Woche 1948 erhalten. Danach gab es am Montag Vanillespeise aus Dessertpulver und Trockenmagermilch mit Trockenobst, am Dienstag Bohnen mit Speck und Trockenzwiebeln, am Mittwoch Ofennudeln mit Schokoladegetränk, am Donnerstag Süßbrei mit Erdnuss und Eiscremepulver, am Freitag Nudelsuppe mit Tomaten.
Unter deutscher Regie