Kerwehaus: Beispiel bürgerschaftlicher Initiative

Ansicht des Fachwerkgebäudes, das wir heute als Kerwehaus kennen von Philibert de Graimberg (1866).
Ansicht des Fachwerkgebäudes, das wir heute als Kerwehaus kennen von Philibert de Graimberg (1832-1895). Aquarell von 1866 des einstigen Schülers des Bender’schen Instituts. (Bild: Unternehmensarchiv Freudenberg)

von Heinz Keller

Alle Beiträge in diesem Zeitungsarchiv sind erstmals in den Weinheimer Nachrichten erschienen. Die Veröffentlichung auf der Internetseite des Weinheimer Museums erfolgt mit der Zustimmung der DiesbachMedien GmbH.

Es ist ein Schmuckstück im Gerberbachviertel und zugleich ein Beispiel bürgerschaftlicher Initiative: das Kerwehaus in der Münzgasse. Vor 50 Jahren, am 24. Juli 1971, wurde das 1559 errichtete, 1970 vom damaligen Verein Weinheimer Kerwe erworbene und danach umfassend sanierte Gebäude seiner neuen Bestimmung übergeben: als Mittelpunkt des Kerwevereins und seiner Aktivitäten, zu denen auch der Erhalt und die Pflege historischer Gebäude zähen.

Die Anziehungskraft des prächtigen Fachwerk-Traufenhauses mit dem attraktiven Torbogen reicht heute weit über das größte Sommerfest an der Bergstraße und die 1266 Jahre alte Stadt hinaus, die es schmückt. Selbst der Schwarzwald-Tourismus zählt das Weinheimer Kerwehaus zu den Sehenswürdigkeiten, die man auf einer Reise durch den Südwesten nicht verpassen sollte. Für viele lokale Gemeinschaften ist das Kerwehaus eine unverzichtbare Veranstaltungsstätte in der daran recht armen Stadt.

Münzstätte?

Doch trotz der inzwischen 50jährigen Erfolgsgeschichte zählt das auch als Fotomotiv sehr beliebte Haus zu den Geheimnissen des Gerberbachviertels wie das benachbarte Templerhaus. Man weiß wenig über die Vergangenheit des Kerwehauses, von dem manche glauben, es sei einst die „Weinheimer Münze“ gewesen und das habe den Gemeinderat 1887 bei der Namensgebung für die Straßen und Gassen der Stadt dazu bewogen, der Gasse, an der es stehtt, den Namen Münzgasse zu geben. Professor Josef Fresin, der große alte Mann der Weinheimer Stadtgeschichte, hat in seiner Festansprache zur Einweihung des Kerwehauses das damals über 400 Jahre alte Gebäude zu den geheimnisvollen Orten in Weinheim gezählt, weil die Erforschung der lückenlosen Hausgeschichte leider nicht mehr möglich ist: eine Reihe wertvoller Grundbücher, die im Zweiten Weltkrieg im Keller des Amtsgerichtsgebäudes schutzgelagert waren, wurden durch eindringendes Wasser völlig zerstört.

Dennoch konnte Josef Fresin den Gästen der Feierstunde heute vor 50 Jahren einiges aus der Hausgeschichte erzählen. Sie geht nach seinen Nachforschungen zurück auf die Familie des Stadtbaumeisters Andreas Bergk, der um das Jahr 1580 in Weinheim lebte und nach der Aktenlage der erste Hausbesitzer war.

Erbauer des Müllheimer Tores

Bergks Name ist bis heute auf dem Torbogen aus dem Müllheimer Tor erhalten, der nach dem Torabbruch 1882 jahrzehntelang in einem Gebäude der ehemaligen Maschinenfabrik Badenia eingemauert war und heute am Aufweg von der Obergasse die Schlosspark-Besucher grüßt. Nach der Inschrift wurde das Müllheimer Tor, einst zusammen mit Blauem Hut und den beiden Hexentürmen einst starke Verteidigungsstelle gegen das Gorxheimer Tal, 1608 „unter Ratsbürgermeister Hans Anstatt Orth, Rechenmeister Stefan Heigel und des Baumeisters Andreas Bergk“ errichtet.

Bergk könnte also durchaus das heutige Kerwehaus im Jahre 1559 erbaut haben: kurz nach einem allerdings nur mündlich überlieferten Großbrand im Gerberbachviertel. Möglicherweise hat es aber auch schon Vorbesitzer eines noch älteren Gebäudes gegeben, vielleicht gehörte es, wie die inzwischen auch zum Hausbesitz des Kerwevereins zählende Kerwescheuer, einst zum Wambolt’schen Hof, dem heutigen Rabenhaupt’schen Hof – ein geheimnisvoller Ort eben.

In schlechtem Zustand

In der lückenhaften Hausgeschichte werden bekannte Weinheimer Familien als Hausbesitzer genannt, zuletzt 1766 die Müllerfamilie Kegler. Dann klafft in den Akten bis 1806 eine Lücke von 40 Jahren. Danach gehörte das Anwesen den Familien Metz, Rutz, Kurtz und schließlich Pflästerer. 1970 kaufte der Verein Weinheimer Kerwe das Gebäude, das sich, wie es Kerwevereins-Vorsitzender Karl Schröder formulierte, in einem schlechten Zustand befand: ohne sanitäre Anlagen, ohne ordnungsgemäße Entwässerung mit Anschluss an die städtische Kanalisation. Die Abwässer flossen in den Gerberbach, im Naturboden des Innenhofs gab es nur eine gepflasterte Rinne, das Dach war undicht.

Das stellte den neuen Besitzer vor eine gewaltige Sanierungsaufgabe. In beispielhaftem bürgerschaftlichen Engagement wurde sie von den Kerwefreunden bewältigt: das Dach wurde mit alten Biberschwanzziegeln neu gedeckt, alle Anschlussleitungen für Strom, Gas und Wasser wurden erneuert, die Räume im Erdgeschoss des Hauses mit der über 400 Jahre alten Eichenbalkendecke wurden umgestaltet und der Innenhof neu gestaltet. Seit 50 Jahren schätzen Kerwehaus-Nutzer das Angebot, das ihnen hier gemacht wird. Im Obergeschoss entstand eine Sammlung alter Möbel aus der Region, die berichten können, wie die guten Stuben der Bürger einst eingerichtet waren.

Neue fachwerkblüte

Schild am heutigen Kerwehaus.
Schild am heutigen Kerwehaus.

Die Sanierung des heutigen Kerwehauses reihte sich vor 50 Jahren ein in die segensreiche Arbeit der Altstadtfrende um Schreinermeister Hans Maier, der es zu verdanken ist, dass vor allem im Gerberbachviertel Dutzende Fachwerkhäuser, mit denen einst die Gerber ihren Wohlstand zeigten, vom schmucklosen grauen Verputz befreit wurden. Josef Fresin erinnerte bei der Kerwehaus-Einweihung daran: „Als ich vor 45 Jahren nach Weinheim kam, waren alle Häuser im Gerberbachviertel grau“.

Seit 1971 weist das Landesdenkmalamt in seinem Verzeichnis der wichtigsten Kulturdenkmäler Weinheims allein im Gerberviertel 65 schützenswerte Gebäude aus. Das Kerwehaus gehört dazu und darauf dürfen die Mitglieder des heutigen Heimat- und Kerwevereins „Alt Weinheim“ und die Stadt Weinheim stolz sein – auch wenn sie den 50. Geburtstag des Hauses nicht feiern können.

(2021, © www.wnoz.de)