Kommunalwahl 1975: der erste Gemeinderat nach der Gemeindereform
Die erste Gemeinderatswahl in den neuen Stadtgrenzen
von Heinz Keller
Alle Beiträge in diesem Zeitungsarchiv sind erstmals in den Weinheimer Nachrichten erschienen. Die Veröffentlichung auf der Internetseite des Weinheimer Museums erfolgt mit der Zustimmung der DiesbachMedien GmbH.
Neun Mal nach dem 27. Januar 1946, dem Tag der ersten freien Nachkriegs-Kommunalwahl, wählten die Weinheimer bis 1975 ihr Stadtparlament, ab 1951 im Rahmen eines „rollierenden Systems“, das dem Wähler alle drei Jahre die Möglichkeit gab, die Hälfte der Gemeinderatssitze wieder oder neu zu besetzen.
Den ersten Nachkriegs-Gemeinderat 1946 bildeten 14 Männer (7 CDU, 5 SPD, 2 KPD), 1947 brach die junge 3-Glocken-Chefin Marianne Zaiser (PWV) die honorige Männergesellschaft als erste Stadträtin auf. Von 1947 bis 1956 bestand der Gemeinderat aus 30 Mitgliedern, danach bis 1972 aus 24 Stadträten. Mit der Gemeindereform wuchs er 1972 auf 48 Mitglieder an, als sich sechs Nachbargemeinden Weinheim anschlossen und 24 Vertreter (11 FWV, 10 SPD, 3 CDU) in den Bürgersaal entsandten. Mit der Wahl von 1975 sollte diese Aufblähung korrigiert werden durch die Wahl des ersten gemeinsamen Stadtparlaments für das größere Weinheim.
Zu dieser zehnten Nachkriegswahl wurden vor 50 Jahren, am 20. April 1975, die 29.217 wahlberechtigten Bürger der Großen Kreisstadt Weinheim aufgerufen. Die Stadt sollte ein gemeinsames Parlament erhalten mit nur noch 40 Mandaten, die von allen Weinheimern zwischen Sulzbach und Oberflockenbach vergeben wurden: wer beispielsweise aus Lützelachsen in den Gemeinderat einziehen sollte, das entschieden nicht nur die „Saasemer“, sondern alle 29.217 wahlberechtigten Weinheimer. Über die Besetzung des Ortschaftsrats, der den bisherigen Gemeinderat (mit weniger Zuständigkeiten) ersetzen sollte, konnten die Bürger der sechs Anschlussgemeinden allerdings selbst entscheiden.
Riesiger Stimmzettel
Um die 40 Sitze im neuen Stadtparlament bewarben sich sechs Parteien: CDU, SPD, FWV, FDP, DKP und NPD. Für sie und lokale Wählergemeinschaften kandidierten 2.300 Frauen und Männer zum Gemeinderat und für die Ortschaftsräte. Ihre Namen standen auf einem riesigen weißen und auf einem kleineren gelben Stimmzettel.
Das Sonntagsspiel „100 aus 2.300“, die Wahl von 40 Gemeinderäten und 60 Ortschaftsräten, überforderte, trotz umfangreicher Kommunikation, 1.070 Wähler, die, gewollt oder ungewollt, ihren Stimmzettel ungültig machten, sie teilten oder ganz zerrissen. Ein Großteil der Wähler wählte den einfachsten Weg: sie gaben dem Wahlvorschlag der von ihnen bevorzugten Partei alle 40 Stimmen. Für Wähler, die viele Kandidaten kannten und die Möglichkeiten des Panaschierens und Kumulierens zu nutzen wussten, wurde der Kampf mit dem weißen Ungetüm ein Vergnügen: sie konnten sich durch die Wahl von Kandidaten verschiedener Listen und durch Stimmenhäufung einen Gemeinderat ganz nach ihrem Geschmack zusammenstellen.
Unechte Teilortswahl
Due „unechte Teilortswahl“, die Weinheim in den Eingliederungsverträgen mit seinen Nachbargemeinden vereinbart hatte, sollte der Befürchtung in den Anschlussgemeinden entgegenwirken, dass sie nach dem Verlust ihrer Autonomie als Teilorte keinen Einfluss mehr auf die Kommunalpolitik der Gesamtgemeinde haben würden. Deshalb wurde die Zahl der garantierten Sitze im ersten gemeinsamen Gemeinderat festgeschrieben: 26 für die Kernstadt, drei für Sulzbach, vier für Lützelsachsen, drei für den zusammengelegten Wohnbereich Hohensachsen/Ritsch-weier, einer für Rippenweier, zwei für Oberflockenbach und einer für den Wohnbereich Waid/Ofling, der mit dem Anschluss der Leutershausener und Heddesheim Exklaven entstanden war.
Gewinner: SPD und CDU
Nach der Wahl setzte sich der Gemeinderat zusammen aus 20 Stadträten der SPD, 13 der CDU, sechs der FWV und einem der NPD. Klare Wahlgewinner waren die klassischen Parteien SPD mit 39,69 Prozent Stimmenanteil und CDU mit 35,46 Prozent.
Von den 60 Ortschaftsrat-Sitzen in den sechs ehemals selbständigen Gemeinden entfielen 19 auf die SPD, 18 auf die CDU, 17 auf die FWV und sechs auf die Bürgerliste Rippenweier.
Wahl der Ortsvorsteher
Die bisherigen Bürgermeister Fritz Dreikluft (Lützelsachsen), Fritz Kippenhan (Ritschweier) und Karl Friedrich Pfrang (Rippenweier) wollten nicht als Ortsvorsteher weitermachen und schieden aus ihren Ämtern. In Oberflockenbach verstarb Bürgermeister Adam Cestaro. Die bisherigen hauptamtlichen Bürgermeister Lothar Bock (Hohensachsen) und Heinrich Müller (Sulzbach) blieben als Ortsvorsteher im Amt.
Aus ihrer Mitte wählten die Ortschaftsräte zu neuen Ortsvorstehern: Eugen Koch (FWV) in Lützelsachsen, Norbert Kippenhan (FWV) in Ritschweier, Xaver Bammert (Bürgerliste) in Rippenweier und Karl-Heinz Fath (SPD) in Oberflockenbach.
Eine Mammutaufgabe
Das mit Spannung erwartete Wahlergebnis stand allerdings erst am Freitag, 26. April, fest. Nie zuvor hatte eine Kommunalwahl in Weinheim so viel Arbeit gemacht, nie zuvor hatte ihre Auswertung so viele Hände und Köpfe beschäftigt, nie zuvor musste im Rathaus und in den Verwaltungsstellen der Stadtbezirke der normale Verwaltungsbetrieb so sehr gedrosselt werden, um den Berg von Stimmzetteln zu sichten, zu ordnen und ihn umzusetzen in ein Wahlergebnis, das hieb- und stichfest gegen alle Anfechtungen sein musste.
Fast eine Million Stimmen, am Sonntag, 20. April 1975 von 21.542 Wählern auf riesigen weißen Bogen für den Gemeinderat und auf gelben für die Ortschaftsräte abgegeben, mussten gezählt und auf sechs Parteien und 2.300 Kandidaten verteilt werden. Daran arbeiteten 450 städtische Mitarbeiter und Wahlhelfer aus der Bürgerschaft fast eine ganze Woche. Sie saßen in 53 Zimmern des Schlosses, der Stadtwerke und in den öffentlichen Gebäuden der Stadtbezirke und übertrugen Stimme für Stimme auf die grün und weiß voneinander abgesetzten Spalten der Zähllisten. Die befürchteten Nachzählungen blieben aus, nur ein Weststadt-Bezirk musste nochmals ausgezählt werden.
Adolf Hitler und Mao Tse Tung
Kommentare auf den Stimmzetteln blieben seltener als sonst. Natürlich gab es, im Schutz der Anonymität, schmutzige Abrechnungen mit dem politischen Gegner, Kritiker der Gemeindereform traten nach, Gestrige meinten, Adolf Hitler habe am Wahltag, seinem Geburtstag, auch posthum zehn Stimmen verdient, und es wurden Stimmzettel aussortiert, auf die mit dickem Filzstift die drei Buchstaben RAF gemalt worden waren. Ein politisch nicht sehr gut informierter Wahlhelfen deutete das als Abkürzung für „Royal Air Force“. Und es gab schließlich den Stimmzettel, der zu einer Werbung für den Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) umgestaltet wurde und das naive Bekenntnis weitergab: „Ich bin jung, mein Herz ist voller Schwung, soll niemand drinnen wohnen als Mao Tse Tung“.
Schlagzeilen 1975 bis 1980
Die Schlagzeilen der Gemeinderatsarbeit zwischen 1975 und 1980 hießen: Westtangente, West-Ost-Spange, innerstädtischer Ausbau der B 38 und Hirschkopf-tunnel, Multbebauung und Multzentrum, Friedrich-schulerweiterung und Erwerb des alten Handels-schulgebäudes (heute Adam-Karrillon-Haus), Flächennutzungsplan und Landschaftsplanung, Innenstadtkonzept, Altstadtsanierung und Marktplatz-Umgestaltung, regionale Kläranlage und Kanalanschluss aus Oberflockenbach, Rippenweier und Ritschweier, Krankenhaus-Erweiterung und Chefarzt-Wechsel, Umgestaltung der Stadthalle und Kauf der Windeck, Hotelpläne am Waidsee und Heinzerling-Bebauung, Jugendzentrum und Jugendhäuser, DRK-Rettungszentrum und Feuerwehrgerätehaus Süd, Sportzentrum Lützelsachsen und Mehrzweckhalle Rippenweier, regionale Volkshochschule, 1200-Jahr-Feiern in Lützelsachsen und Hohensachsen, 20 Jahre Partnerschaft mit Cavaillon, neuer Bürgermeister und erste Frau als Ortsvorsteherin. Das eindrucksvollste Ereignis in diesem Jahrfünft der Weinheimer Stadtgeschichte war der Besuch ehemaliger jüdischer Mitbürger in ihrer Heimatstadt.
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