Kulturzentrum und Hochstraße hätten das Stadtbild zerstört

Vor 50 Jahren: Zwei gigantische Projekte wurden diskutiert

von Heinz Keller

Weinheim. Man kann es sich nicht vorstellen – und man mag es sich eigentlich auch nicht vorstellen: dass sich auf dem heutigen Stadthallen-Gelände ein Baukörper mit 22 Stockwerken aufrichtet, am Rande einer West-Ost-Trasse, die sich vor dem Koloss auf der Südseite der Weschnitz von zwei auf sechs Fahrspuren aufweitet und sich bei der Boxerbrücke auf vier und am Petersknoten wieder auf zwei Fahrspuren verengt.

Aber man darf sich solche Gigantomanie durchaus einmal kurz vorstellen, denn sie wurde in Weinheim vor 50 Jahren ernsthaft diskutiert. Im Januar 1970 machte Oberbürgermeister Theo Gießelmann die Gemeinderats-Fraktionen mit einer Vision vertraut, die versprach, die Raumprobleme der kulturellen Einrichtungen Weinheims auf einen Schlag zu lösen.

Triste Ausgangslage

Niemand widersprach dem Oberbürgermeister bei der Feststellung, dass nur wenige Mittelstädte in Deutschland „ein so erbärmliches Raumangebot im kulturellen Bereich“ haben. In der Tat: Die Stadtbücherei litt unter den unzureichenden Verhältnissen im Bürgerpark-Pavillon und hatte keine Möglichkeit, sich in der Innenstadt zu entfalten. Die Volkshochschule besaß überhaupt keine eigenen Räume, war bei einem stetig wachsenden Veranstaltungsangebot auf Leihräume angewiesen und musste ihre Verwaltungsarbeit in behelfsmäßig eingerichteten Räumen der maroden Dürreschule bewältigen, umgeben vom Lärm und der Unruhe des Schulbetriebs für die Klassen des Gymnasiums, der hier untergebracht waren. Antiquiert erschien auch der Festsaal beim Hotel „Pfälzer Hof” für die immer anspruchsvoller werdenden Theaterabende der Kulturgemeinde und für die zahlreichen geselligen Veranstaltungen der Weinheimer Vereine. Und schließlich war der Stadtjugendring als Dachorganisation der Jugendverbände nach dem Verlust des Jugendheims im Bürgerpark heimatlos geworden.

„Die Chance nutzen!”

In dieser Situation weckte die Vorstellung von einem Kulturzentrum, das alle diese unter Raumnot leidenden Einrichtungen unter sein Dach nehmen könnte, große Hoffnungen. Zwar wusste man, dass die Stadt mit einem Haushaltsvolumen zwischen 30 und 40 Millionen DM ein solches Projekt mit ähnlich hohem Kostenaufwand allein nicht wagen konnte, aber in den beginnenden 1970er Jahren herrschte ein unvorstellbarer Bauboom. Die Investitionsfreude privater Bauherren und den allgemeinen Drang zur Eigentumswohnung wollte man über eine Bauträgergesellschaft nutzen zur Schaffung von 220 Wohneinheiten mit 350 Tiefgaragenplätzen, von Läden und Büros, eines Hotels und eines Restaurants. Damit sollte der mit 22 Geschossen in den Himmel ragende Baukörper finanziert werden.

Für die Schublade geplant

Der Gemeinderat stimmte am 26. Mai 1971 dem Entwurf eines Bebauungsplans für den Bereich Stadthalle/„Pfälzer Hof” zu, der alle verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für einen Baubeginn schaffen sollte, auch wenn man sich im klaren darüber war, dass noch Jahre bis zu einer Verwirklichung der Pläne vergehen konnten. Ausgangspunkt für die Beschlussfassung, die noch kein Votum für das Projekt selbst darstellen sollte, war die Erwartung, dass der Ausbau der B 38 im Stadtbereich und die damit verbundene Neutrassierung der Birkenauertalstraße umfangreiche Sanierungsmaßnahmen in dem vom Bogen der Odenwaldbahn und dem südlichen Talrand der Weschnitz umrahmten Nordstadtgebiet einleiten werde. Damit sollten auch die Voraussetzungen zum Bau eines Kulturzentrums geschaffen werden.

Das Ende kam schnell

Am 5. Juli 1972 wurde der Bebauungsplan „Kulturzentrum” vom Gemeinderat einstimmig beschlossen, am 11. Juli 1972 startete eine Gemeinderatsvertretung zu einer Informationsfahrt nach München und zu Gesprächen mit der Wetterstein-Gruppe, die sich mit dem Bau von Altenwohnheimen in Form geschlossener Immobilienfonds einen Namen gemacht hatte. Von ihr erhoffte man sich die Verwirklichung des Projekts Kulturzentrum. Doch als die Stammgesellschaft des reichlich zerklüfteten Wetterstein-Firmengebirges, das Münchner Bauunternehmen Georg Hubmann, 1973 den Weg zum Konkursrichter gehen musste, wurde auch das Thema Kulturzentrum in Weinheim begraben – sehr zur Genugtuung seiner Kritiker, die der Meinung waren, dass das Mammutprojekt mit seinen enormen Folgekosten nicht nur finanziell eine Nummer zu groß für das bereits an seine Leistungsgrenzen stoßende Weinheim sei, sondern auch städtebaulich eine Gefahr, denn der riesige Baukörper würde das Stadtbild nachhaltig beeinflussen – nicht nur in der Nordstadt.

Kleinere Brötchen

Der Traum vom großen Kulturzentrum, das alle Raumsorgen von Kulturgemeinde, Kammermusikverein, VHS, Stadtbibliothek und Stadtjugendring unter einem Dach lösen sollte, war 1974 endgültig ausgeträumt. Die Karlsruher Architekten Schmitt und Kasimir, die diesen Traum bereits in Planvorstellungen gefasst hatten, widmeten sich fortan einer kleineren Aufgabe: der Umgestaltung und Erweiterung der Stadthalle. Das ließ auch die Herz-Jesu-Gemeinde aufatmen, der auf der Nordseite des riesigen Baukörpers ein echtes Schattendasein gedroht hätte wie den Bewohnern der zweigeschossigen Häuser an der Paul- und der Johannisstraße.

Die gigantischen Ausmaße der Bebauung, die der zwar nicht mehr weiter verfolgte, aber weiterhin gültige Bebauungsplan „Kulturzentrum” zugelassen hätte, blieb Anwohnern und Teilen des Gemeinderats noch jahrelang ein Dorn im Auge. Im Juni 2004 wurde mit der Einleitung des Verfahrens zur Aufhebung des Bebauungsplans die Akte Kulturzentrum nach über 30 Jahren endgültig geschlossen. Inzwischen haben die Kulturgemeinde und die Vereine eine neu gestaltete Stadthalle erhalten, die VHS ist im ehemaligen Landeszentralbank-Gebäude untergekommen, die Stadtbibliothek hat das Haus der Diesterwegschule übernommen und erweitert und der Stadtjugendring arbeitet in der Uhlandschule.

Die Hochstraße scheiterte

Ganz anders verlaufen als vor 50 Jahren geplant, ist auch die Lösung des West-Ost-Verkehrs. Der Widerstand der Bürger verhinderte eine Hochstraße aus der Viernheimer Straße über die Bahngleise und die Weschnitz zur Kreuzung am „Pfälzer Hof” und die Aufweitung der Birkenauertalstraße. Stattdessen wurde, wenn auch mit zeitlicher Verzögerung und unter finanziellen Verlusten, der Saukopftunnel gebaut und nimmt seitdem die Hälfte des einstigen Durchgangsverkehrs aus dem Birkenauer Tal. (2020)