Das Müll, Weinheims zweitältester Stadtteil

Wiege der Demokratie und der Industrie

Gaststätten „Zum goldenen Schwanen“ und „Ratskeller“ mit Müllheimer Tor
„Des Müll, des fängt am Schwane aa“, sang Christian Bader im „Müllemer Lied“. Die Gaststätte „Zum goldenen Schwanen” war das 2. Haus hinter dem „Ratskeller” (v. l.) und stand stadtwärts vor dem Müllheimer Tor, hinter dem das Stadtviertel eigentlich begann

von Heinz Keller

„Des Müll, des fängt am Schwane aa“, sang Christian Bader im „Müllemer Lied“. Die Gaststätte „Zum goldenen Schwanen“ war das zweite Haus hinter dem „Ratskeller“ (vorne links) und stand stadtwärts noch vor dem Müllheimer Tor, hinter dem das Stadtviertel Müllheim eigentlich erst begann.

Kein anderes Stadtviertel hat sich in der jüngsten Vergangenheit so sehr gewandelt wie das Müllheimer Tal, kurz: das Müll. Vieles, was es im Laufe der Jahrhunderte prägte, ist 1956 mit der Verdolung „der Grundelbach“ – im Weinheimer Dialekt ist der Bach weiblich – verschwunden. Nues ist dafür entstanden. Doch noch immer singen die Müllemer, vor allem bei der Kerwe: „Des Müll, des fängt am Schwane aa, beim Renisch drauß hert’s uff, un rechts un links is alles Müll, sogar die Stoabix nuff“.

Blick vom „Müll“ auf Weinheim (1873) mit Kirchturm von St. Laurentius, Schlossturm, Müllheimer Torund  das große Wehr an der Lohnmühle.
Blick vom „Müll“ auf Weinheim (1873). Neben dem Kirchturm von St. Laurentius und dem Schlossturm ist noch das Müllheimer Tor zu sehen, das 1882 als Verkehrshindernis beseitigt wurde. Rechts das große Wehr an der Lohnmühle.

Christian Bader (1852-1914), Lokalpoet und Volkssänger, hat das „Müllemer Lied“ gedichtet, vertont und zur Zupfgeige gesungen. Er konnte nicht ahnen, dass es ein Jahrhundert nach seinem Tod keinen „Schwanen“ und keinen Reinig mehr geben würde, dass von den Wirtschaften, in denen er seine Spottlieder auf die Stadtverwaltung sang, nur die „Finkenburg“, sein Stammlokal, noch bestehen würde. Kein „Odenwald“, kein „Stern“, kein „Martin in seim Bienehaus“, kein Müllers-Schorsch schräg gegenüber in der „Windeck”.

Taglöhnerhäuschen und Gastwirtschaft „Zum Odenwald“.
Taglöhnerhäuschen vor der Gastwirtschaft „Zum Odenwald“, in dem Georg Weisbrod ein Lebensmittel- und Milchgeschäft betrieb, 1931 abgebrochen, 1971 folgte „der Odenwald“, der seine letzte Nutzung als Centro Italiano hatte.

Die traditionsreichen Müllemer Gaststätten sind ebenso verschwunden wie die strengen und nüchternen Werksanlagen der Alten und der Neuen Gerberei, wie die Oehlig-Mühle, der Fellspeicher und die Feilenfabrik. Das Müll ist die Wiege der Weinheimer Industrie, im Müll begann im 19. Jahrhundert der Aufstieg Weinheims zur bedeutendsten Industriestadt an der Bergstraße: mit der Lederfabrik Carl Freudenberg, die zu einem weltweit tätigen Konzern wuchs, mit der Mechaniker-Werkstatt von Wilhelm Platz, aus der sich die Maschinenfabrik Badenia entwickelte, mit der Feilenfabrik, die der junge Feilenhauer Johann Reinig 1885 in der Waldmühle, einer 1423 gegründeten Walkmühle, eröffnete.

Peter Trautmann, Personalchef bei Freudenberg, mit dem Fahrrad zum Büro in der Neuen Gerberei.
Peter Trautmann, Personalchef bei Freudenberg, mit dem Fahrrad zum Büro in der Neuen Gerberei. Das Areal der Neuen Gerberei ist heute mit der Wohnsiedlung bebaut, die den alten Gewannnamen Steinbüchse erhält.

Johann Reinig war „de Reinisch“, dessen Feilenfabrik Christian Bader als Endpunkt des Mülls besang, das einst ein Tal mit acht Mühlen war und Müllheim, wohl auch mal Mühlheim hieß. Die erste Erwähnung im Lorscher Codex nennt es 1130 Mulnen. Damit ist das Müll nach dem ursprünglichen Weinheim, der heutigen Nordstadt, der zweitälteste Stadtteil, älter als die erst um 1250 gegründete Neustadt rund um den Marktplatz.

Die Mühlen im Müllheimer Tal gehörten zur Burg Windeck, auf der zunächst Lorscher, später pfalzgräfliche Burgmannen saßen. Ihnen waren die Bewohner des Mülls zu Diensten und Abgaben verpflichtet. In Kriegszeiten mussten sie Wachdienst leisten, die Burg fegen und kehren, Holz hauen und Wasser den Schlosspfad hinauf tragen. Wenn es Sturm läutete, sollten sie auf die Burg laufen, „oben bleiben und tun, was ihnen befohlen wird“. Als 1524 das Stadtgebiet in acht so genannte „Viertel“ eingeteilt wurde, entstand das Müllemer Viertel als achter Stadtteil.

In einfachen Häusern, die sich vor den lang gestreckten Backsteinbauten der Industrie zu ducken schienen, wohnten einst Bauern und Fronarbeiter, später Taglöhner und kleine Handwerker, dann zunehmend Lederarbeiter von Freudenberg, die 1889 den Männergesangverein „Eintracht“ gründeten. „Holzschuhverein“ nannte man ihn, weil die „Fawarikler“ von Freudenberg angeblich mit ihren Holzschuhen direkt aus der Gerberei zur Singstunde „im“ Bienhaus gingen.

Vornehme Autodroschken vor dem Gasthaus „Zum Müllheimer Tal“. Das traditionsreiche Haus gibt es heute nicht mehr.
Es muss ein besonderes Ereignis gewesen sein, das die vornehmen Autodroschken vor dem Gasthaus „Zum Müllheimer Tal“ vorfahren ließ. Auch dieses traditionsreiche Haus gibt es nicht mehr.

Das Müll ist auch die Wiege der Demokratie in der alten Amtsstadt Weinheim. Bei Friedrich Härter, dem Wirt der Gaststätte „Zur Burg Windeck“, wurden oppositionelle Gedanken diskutiert, im Gartensaal wurde 1843 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben umjubelt, der Dichter des Deutschlandlieds, und beim Weihertalbrunnen erinnert der „Revolutionsplatz“ mit dem bis heute erhaltenen Steintisch an die Zusammenkünfte des „neuen demokratischen Vereins“.

100 Jahre später endete im Müll am 28. März 1945 für Weinheim der Zweite Weltkrieg. Die sinnlose Panzersperre bei der Lohmühle und einzelne deutsche Soldaten, die im Kastanienwald, am Windeckhang und am Schulzenbuckel eine „letzte Verteidigungslinie“ vorspiegelten, sorgten im Müll noch für unruhige Stunden, als die übrige Stadt längst kampflos von den Amerikanern besetzt war.

Christian Baders Liedverse treffen heute nur noch in einer Zeile zu: „un rechts un links is alles Müll, sogar die Stoabix nuff“. Der seit 1381 bekannte Gewannname Steinbüchse ist in der Straße „An der Steinbüchse“ erhalten worden, die die Wohnsiedlung auf dem Gelände der einstigen Neuen Gerberei erschließt. Dennoch singen die Müllemer und mit ihnen alle gebürtigen und zugezogenen Weinheimer zur Kerwezeit aus voller Brust: „Mir sinn vum Müll, Müll, Müll, do drauß vun unserm Müll, un wer vun unserem Müll net is, kann her sei, wu er will“.

„De Baader-Chrischtl” und seine Lieder

Mit seinem „Müllemer Lied“ ist Christian Bader unsterblich geworden, doch er war gar kein Müllemer, sondern ein waschechter Gerwebächer Bub aus der Stadtwehrstraße. In der Schule fiel er durch seinen Frohsinn und seine Intelligenz auf, aber auch durch Bummelei. Mit einem guten Abschlusszeugnis begann er im damaligen Gaswerk, bei den heutigen Stadtwerken, eine Lehre zum Installateur. Bader wurde ein tüchtiger Handwerker. Bürgermeister Heinrich Ehret hätte ihn gern zum Leiter des städtischen Gaswerks ernannt, aber in der Stadtverwaltung und im Gemeinderat gab es einflussreiche Männer, die sich über Baders Spottlieder ärgerten, die er sonntags in der Finkenburg“, in der Bierbrauerei Mühlbauer (heute „Stadtschänke“) oder in „Dells Weinstube“ (später „Rodensteiner“) an der unteren Hauptstraße sang. Außerdem pflegte der Lokalpoet und Volkssänger montags meist „blau zu machen“.

Am Neujahrstag 1914, schloss „de Baders-Chrischtl“ seine lustigen Augen. Er hinterließ seiner Heimatstadt auch ein Lied mit stadtgeschichtlichem Hintergrund, das Lied vom Bauverein: „De Bauverein vun Woinem, den halte mer in Ehre, weil er unser Städtsche mit Haiser dut vermehre. Scheene Haiser dut er baue mit aller Energie, als erschte sin erstanne unser scheeni Kolonie“.

Mit diesem Lied pries Bader die Leistungen des 1903 gegründeten Bauvereins Weinheim, der bis 1905 an Römerstraße, Nordstraße, Moselstraße und Alter Landstraße 24 Häuser mit 84 Wohnungen errichtete: die Kolonie. Die Gründung des Bauvereins, der 1942 in der Baugenossenschaft Weinheim aufging, brachte in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts soziale Notstände von unvorstellbarem Ausmaß ans Licht. 1984 und 1990 wurde die alte Kolonie (woinemerisch: Kolonn) mit Millionenaufwand in eine moderne Wohnanlage umgewandelt. Sie hat ihre Charakteristik in der Torhalle, die Bergstraße und Alte Landstraße verbindet.

Bürgermeister vom Müll

Unvergessen ist den alten Weinheimern auch der Wagnermeister Abraham Gaberdiel. Den Bürgermeister vom Müll nannten sie ihn. Bis ins hohe Alter arbeitete er in seiner Werkstatt am Hexenturm. Gern saß er aber auch am Stammtisch in den Müllemer Wirtschaften, hörte sich an, was seine Mitbürger zu den großen und kleinen Ereignissen im Viertel zu sagen hatten, und gab selbst seine Kommentare dazu. Mitunter kamen sie allerdings recht unwirsch über die Lippen des alten Handwerksmeisters, wenn er ein langweiliges Kirchweihfest beklagte: „E Ourwäller Leich’ is schenner als die Woinemer Kerwe!“.

Erschienen 2014