Projekt des Jahres 1973: das Miramar

Gelungener Start des Freizeitzentrums mit über 100.000 Besuchern

Historische Luftaufnahme aus der Bauzeit der Multi.
Weinheims Zukunftsentwicklung erwarteten die Stadtplaner in der Mult. Im Obstbaumgürtel zu Füßen der Stadt sollten 7.000 Menschen eine neue Heimat finden. Zur Orientierung: unten die Multschule, darüber die Westtangente.

von Heinz Keller

Alle Beiträge in diesem Zeitungsarchiv sind erstmals in den Weinheimer Nachrichten erschienen. Die Veröffentlichung auf der Internetseite des Weinheimer Museums erfolgt mit der Zustimmung der DiesbachMedien GmbH.

Trotz der Einweihung des Erweiterungsbaues am Städtischen Krankenhaus, der Kindertages-stätte Kuhweid und des neuen Sportplatzes  in Sulzbach, trotz der Schaffung von Wohnraum für 280 Familien auf dem Gelände der ehemaligen Hühnerfarm Dietrich (heute Schumacher-/Heuß-Straße) und der Einrichtung einer Fußgängerzone in der Innenstadt, trotz des Ausbaues der Sportstätten im Stadion-bereich und der Anlage neuer Parkplätze im Erholungsgebiet Waidsee, trotz anderer guter Entwicklungen wurde das Allwetter-Freizeit-zentrum „Miramar” zum „Projekt des Jahres 1973”. In der Trägerschaft einer GmbH mit der Stadt Weinheim und der Rhein-Neckar AG als Gesellschaftern und mit Stadtwerke-Direktor Ludwig Fuchs, Sparkasse-Direktor Otto Heß und Verkehrsdirektor Werner Schilling in der Geschäftsführung wurde das „Miramar” nach neunmonatiger Bauzeit am 26. Oktober 1973 auf der Ostseite des Waidsees eröffnet. Es sollte den Freizeitwert Weinheims betonen und erhöhen. Bis zum Jahresende hatte es mehr als 100.000 Besucher.

Regionalaufgabe Großkläranlage

Noch während dem „Miramar”-Start die erhofften Besucherzahlen folgten, lagen den Stadt-räten bereits die Pläne für neue Großprojekte auf dem Tisch. Nach der Lösung der regionalen Trinkwasserversorgung durch den Wasserzweckverband Badische Bergstraße und sein neues Wasserwerk in Hemsbach sollten nun zur Abwasserbeseitigung an der Bergstraße und im badisch-hessischen Odenwald unter Einbeziehung der Nachbarstadt Viernheim ein gemeinsamer Abwasserverband Bergstraße gegründet und eine Großkläranlage auf der Altau in der Nachbarschaft zum Weinheimer Segelflugplatz gebaut werden.

Es wurde viel geplant

Die frühen 1970-er Jahre waren in Weinheim Planungsjahre. Es gab interessante und zielgerechte, gewagte und von Anfang an umstrittene Vorstellungen von der Entwicklung der Stadt. Mit dem Segen des Verwaltungs-gerichtshofs Baden-Württemberg konnte am Wüstberg und am Michelsgrund gebaut werden, die Wohnanlage Wachenberg wurde auf dem Gelände der ehemaligen Seifenfabrik Bechtold & Förster zum Beispiel für die gelungene Umwandlung von zentrumsnahen Industrie-flächen in Wohngebiete. Die vom Gemeinderat Sulzbach mitgebrachten Projekte Sulzbach-West und Sulzbacher Hof lösten dagegen beim neu gebildeten Raumordnungsverband Rhein-Neckar vor allem Kritik an ihren Dimensionen aus.

Kulturzentrum ade

Mit großer Mehrheit (und Erleichterung) trug der Gemeinderat das gigantische Projekt eines Kulturzentrums auf dem Gelände von „Pfälzer Hof” und Stadthalle zu Grabe, dessen Bebau-ungsplan er 1972 noch einmütig zugestimmt hatte, das mit seinen 22 Geschossen aber in der Bürgerschaft auf heftigen Widerstand gestoßen war. Der Rückzug des Investors erleichterte den Stadträten die Entscheidung: das Projekt hätte zwar alle Raumprobleme der Kultureinrichtungen lösen können, aber es war mehrere Nummern zu groß für Weinheim.

Zeitungsausschnitt mit Modell des geplanten Hochhauses.
Das Modell der Bebauung am Berliner Platz

Zukunft in der Mult

Dem umstrittenen Projekt Kulturzentrum folgte ein neues Streitobjekt: das von Anfang an konträr diskutierte Multzentrum. Ein gewaltiger Baukörper mit drei bis zu 18 Stockwerken hohen Wohntürmen, 22.000 qm Einzelhandels- und 21.000 qm Wohnfläche sollte der Mittelpunkt eines 72 Hektar großen Neubaugebiets werden,in dem man die Zukunftsentwicklung Weinheims erwartete. Das Zentrum sollte die Versorgung von 7.000 neuen Einwohnern sichern und außerdem die Trennung des Stadtgebiets an der Schnittstelle von westlicher Innenstadt und Weststadt über-winden. Das Multzentrum wurde für einen noch zu schaffenden Berliner Platz geplant und auf dem Straßentunnel der künftigen B-3-Stadtumgehung, der Westtangente. Gegen die (überzogenen) Dimensionen des neuen Einkaufszentrums gab es schnell und anhaltend heftigen Widerspruch aus der Bürgerschaft und vom innerstädtischen Einzelhandel. Deshalb stellten die WN im März 1973 ihren Bericht über die erste öffentliche Diskussion der Pläne für die Bebauung des Berliner Platzes unter die Überschrift: „Multzentrum – Gefahr oder Gewinn für Weinheim? ”. Bei der Eröffnung des Multzentrums mit dem famila-Anker 1982 feierten alle eine erheblich reduzierte Einkaufsstätte.

Das Tietz-Gutachten

Eine wichtige Grundlage für die Streit-gespräche über die Zukunft des Einzelhandels in Weinheim war ein im Juni in Auftrag gegebenes, im November vorgelegtes, 300 Seiten starkes Gutachten des Instituts für empirische Wirtschaftsforschung an der Universität Saarbrücken. Es trug den langatmigen Titel „Die Stadt Weinheim als Einkaufszentrum unter besonderer Berücksichtigung des Mult-Zentrums als Einzelhandels-Standort”. Sein Verfasser war Institutsdirektor Professor Dr. Bruno Tietz, einer der meistgesuchten Experten im deutschen Handel. Professor Tietz starb 1995 bei einem Flugzeugabsturz in England.

Gewaltige Verkehrsprojekte

Andere Themen im diskussionsfreudigen Jahr 1973 waren eine dritte Verbindung von Innenstadt und Weststadt aus dem vierspurigen Multring über Bundesbahn und Bergstraße in den Fabrikweg (heute Kopernikusstraße) und zum Schloss, ein „Stadtdurchbruch” für den Ost-West-Verkehr mit einer riesigen Straßenbrücke aus der Viernheimer Straße über Bundesbahn, Weschnitz und Steinerne Brücke ins Birkenauer Tal (dafür kam der Hirschkopf-Tunnel) und die lautstarke Forderung der nichtorganisierten Jugend nach einem Jugendzentrum in Selbstverwaltung, das im Gärtnerhaus des Haganderparks entstehen sollte. Dafür kam das Jugendhaus West an der Konrad-Adenauer-Straße. (2023)

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