Viele Hoffnungen waren mit dem Landesmodell einer integrierten Gesamtschule verbunden

Weinheims neue Schule machte Schule

Baustelle der Gesamtschule. Main-Neckar-Bahn und Güterbahnhof trennen das Stadtgebiet Weinheim in Hälften.
Baustelle der Gesamtschule. Die Westtangente und die Erschließungsstraße, die heutige Breslauer Straße, sind gebaut. Deutlich erkennbar trennen Main-Neckar-Bahn und Güterbahnhof das Stadtgebiet Weinheim in Hälften. Luftbild: W.R.Pfrang

von Heinz Keller

Weinheim. Kein anderes kommunalpolitisches Thema nimmt im WN-Redaktionsarchiv so viel Raum ein wie die Sammlung der Berichte über das Werden der Gesamtschule und ihr Verändern zum Schulverbund der Dietrich-Bonhoeffer-Schule. Zeitungsausschnitte aus dem gesamten Land zeugen von einem außergewöhnlichen persönlichen Engagement hoch motivierter Pädagogen und Bildungspolitiker für „die neue Schule”, der landesweites Interesse auslöste für das, was sie planten und wie sie es verwirklichen konnten. „Weinheims neue Schule macht Schule” ist einer der Titel, unter denen in Stuttgart, Freiburg und Tübingen über den Modellversuch mit einer „Integrierten Gesamtschule” berichtet wurde. Aber es wurde im Land auch heftig gestritten, ob die neue Schulform zur „Schule von morgen“ führen werde oder ob sie „ein pädagogisches Abenteuer“ sei, vor dem man sich hüten sollte.

Ein halbes Jahrhundert später ist der „in der Bundesrepublik einzigartige Schulversuch” (Professor Meyer, PH Heidelberg) Geschichte. Aber die Leidenschaft, mit der sich Dr. Gisela Freudenberg und die Mitglieder der Planungsgruppe Weinheim für ein Projekt der gleichen Bildungschancen für alle Kinder engagierten, das sie für notwendig, gut und richtig hielten, verdient bis heute Anerkennung und Respekt.

Reaktion auf Raumnot

Das älteste Schriftstück in der WN-Berichtesammlung datiert vom 22. Dezember 1966. Knapp vier Monate nach seinem Amtsantritt als neuer Weinheimer Oberbürgermeister informierte Theo Gießelmann den Gemeinderat über die Ergebnisse seines Besuchs im Stuttgarter Kultusministerium. Er sollte eine Antwort auf die Frage bringen, ob die Stadt Weinheim mit ministerieller Unterstützung rechnen könne bei der Erfüllung des Gemeinderatsbeschlusses vom 13. Oktober 1966, die akuten Raumprobleme der Weinheimer Schulen in einem Schulzentrum mit Gymnasium, Mittel-, Haupt- und Sonderschule zu lösen, das in der Vorderen Mult errichtet werden sollte.

In Stuttgart erteilte Ministerialrat Piazzolo dem Institut für Schulbau an der Technischen Hochschule Stuttgart einen Forschungsauftrag, für das in Weinheim vorgesehene Schulzentrum ein Raumprogramm nach modernsten Erkennt-nissen auszuarbeiten. Eine pädagogische Arbeitsgruppe sollte als Vorausleistung ein pädagogisches Programm erarbeiten.

Eine Million DM von CF

Erleichtert wurden die Entscheidungen in Weinheim und Stuttgart durch die Spende der Firma Carl Freudenberg. Unternehmenssprecher Hermann Freudenberg verkündete bei der CF-Weihnachtsfeier den Beschluss, „zum Andenken an Hans Freudenberg dem geplanten Schulzentrum eine Million DM zur Verfügung zu stellen „unter der Bedingung, dass dieses Schulzentrum nach letzten Erkenntnissen der Erziehungswissenschaften als Modellschule mit besonderer Unterstützung des Landes errichtet wird”.

Termin: September 1970

Multschule: Schlüsselübergabe durch Architekt Hanspeter Klein an Rektor Hermann Wind, Leiter der Orientierungsstufe.
Ein wichtiger Augenblick für zwei engagierte Streiter um die Gesamtschule: Schlüsselübergabe durch Architekt Hanspeter Klein (rechts) an Rektor Hermann Wind, den Leiter der Orientierungsstufe.

Das war am Jahresende 1966 der Startschuss für Weinheims größtes und teuerstes Schulbauprojekt, das zunächst unter dem Titel Schulzentrum lief, dann unter Gesamtschule und schließlich unter dem auch heute noch gebräuchlichen Namen Multschule. In Weinheim wurde eine örtliche Arbeitsgruppe berufen aus Lehrern aller Schularten (Dr. Fritz Leonhardt, Ferdinand Müller, Hermann Wind, Otto Eschwey und Jakob Hohenadel), pädagogischen Beratern von der PH Heidelberg, darunter der Weinheimer Professor Dr. Walter Breunig, von der Uni Heidelberg und der Odenwaldschule, mit Sachverständigen aus den Gemeinderatsfraktionen (Uwe Kleefoot, Lothar Menstell, Dr. Helmut Pönisch, Günter Stricker), der Elternschaft (Dr. Gisela Freudenberg), der Stadtverwaltung (Theo Gießelmann, Alfred Beck, Rasso Mutzbauer, Erich Berger). Wolfgang Daffinger MdL hielt den Kontakt zum Landtag.

Ab September 1967 hatte die Schulbauplanung ein klares Ziel: am 1. September 1970 sollte der erste Bauabschnitt bezugsfertig sein.

Der Termin wurde eingehalten: am 9. September 1970 übergab Architekt Hanspeter Klein, Gewinner des bundesoffenen Architekten-Wettbewerbs mit 42 Architekturbüros, den Schlüssel zum ersten Gebäude des 35-Millionen-Projekts, dem späteren Grundschulgebäude, an Rektor Hermann Wind, der als Leiter der Orientierungsstufe der erste Leiter der neuen Gesamtschule Weinheim wurde.

Den letzten Schwung hatten die bis kurz vor der Eröffnungsfeier anhaltenden Bauarbeiten am Vorabend erfahren, als sich die Gesamtschulplaner Theo Gießelmann, Alfred Beck, Hermann Wind und Hanspeter Klein um einen Apfelkuchen vom Blech scharten, den „Gesamtschul-Mutter“ Gisela Freudenberg fürs große Aufatmen gebacken hatte.

Die ersten Gesamtschüler

Am nächsten Tag machten sich 250 Füntklässler auf den Weg zur Großbaustelle in der Mult. Der erste Jahrgang der Orientierungsstufe wurde dort von den ersten Gesamtschullehrern Baden-Württembergs erwartet. Die „Gesamtschul-Pioniere“ begegneten sich erstmals in den acht Klassengruppenräumen des 950 qm großen Gebäudes und staunten über Teppichboden und flexible Wände, die entsprechend den Unterrichtsanforderungen versetzt werden konnten. Und sie entdeckten neue Formen des Schulalltags, für die ihre Eltern noch bestraft worden wären.

Die erste Etappe

Der Einweihung des ersten Bauabschnitts des Modellprojekts Gesamtschule, das in den Ansprachen als „Schritt in eine neue pädagogische Zukunft“ gewürdigt wurde, waren informations- und diskussionsreiche, auch von Reibungen, Missverständnissen und Enttäuschungen begleitete Planungsjahre vorausgegangen, die Eltern hoffen und zweifeln ließen, den Weinheimer Gemeinderat und den Stuttgarter Landtag spalteten und die Leserbriefspalten der „Weinheimer Nachrichten“ mit Anerkennung und Kritik füllten. Eine Kröte musste der Gemeinderat im November 1969 noch schlucken: der Preis für die zweite Schwimmhalle beim Hallenbad, die zum Sportstättenprogramm der Gesamtschule zählte, hatte sich um 40 Prozent erhöht.

Endlich: erster Spatenstich

Spatenstich zum Bau der Multschule.
Ungemütlich war’s am 23. Dezember 1969 auf der Baustelle in der Mult, als Oberbürgermeister Gießelmann die Bauarbeiten startete. Bild: WN-Archiv

Doch das Jahr 1969, das so wesentlich von den Entwicklungsstufen zu den baufertigen Plänen für eine integrierte Gesamtschule geprägt war, erfuhr dann doch noch einen glücklichen Abschluss: am 23. Dezember fand, bei unangenehmem Schneetreiben, der erste Spatenstich statt. OB Gießelmann griff dabei allerdings nicht zum Spaten, sondern setzte sich auf ein Räumgerät und holte mit dem Greifer die erste Ladung Muttererde aus dem Multboden zum Zeichen des Baubeginns für Weinheims größtes Schulbauprojekt.

Das Weinheimer Gesamtschulmodell blieb während der gesamten Bauzeit ein bildungspolitisches Streitthema. Die einen versprachen sich vom neuen Schultyp der Gesamtschule eine differenziertere Förderung der einzelnen Begabungen und der Kritikfähigkeit, die anderen wollten allenfalls mehr Wirksamkeit für die Leistungsgesellschaft erreichen und wieder anderen schien skeptische Zurückhaltung geboten: sie wollten einfach abwarten, wie sich die laufenden Gesamtschulversuche entwickeln würden.

Es wurde nicht nur weiter viel geschrieben über das „Pilotsystem auf dem Weg zur besseren Schule“ (Dr. Gisela Freudenberg), sondern die Baustelle für eine demokratische Schule wurde auch interessiert besucht: von der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrats, von Bundes- und Landesministern, Pädagogische Bundestagungen fanden in Weinheim statt, die Stadt Weinheim erhielt den „Hugo-Häring-Preis“ für vorbildliche Bauwerke in Baden-Württemberg, die Architektur-Zeitschrift „Bauwelt“ widmete dem Bauwerk in der Mult einen Sonderdruck. Aber es gab auch verstärkt Gegenwind mit dem Vorwurf, die Gesamtschule sei das „Relikt eines unkritischen Fortschrittglaubens“.

Lob zur Einweihung

Gesamtschüler mit Dr. Gisela Freudenberg, Kultusminister Professor Hahn und Ministerialdirektor Dr. Piazzolo
„Herr Minischter, gewwe Se mer ä Audogramm?”. Unbefangene Gesamtschüler mit Dr. Gisela Freudenberg, Kultusminister Professor Hahn und Ministerialdirektor Dr. Piazzolo..

Als „beispielhafte Leistung einer Mittelstadt, mutiger Schritt in pädagogisches und architektonisches Neuland, als Erfolg bürgerschaftlicher Initiative und außergewöhnlichen persönlichen Engagements“ wurde am 4. Mai 1973 die Errichtung der Gesamtschule in Weinheim gewürdigt. In einer schlichten Feierstunde wurde die Multschule nach mehr als sechs Jahren Planungs- und Bauzeit in Anwesenheit des baden-württembergischen Kultusministers Professor D. Dr. Wilhelm Hahn ihrer Bestimmung übergeben.

1985/86 wurde sie in den heutigen Schulverbund umgewandelt. Das ist eine andere Geschichte. (2020)