1920: Die Wahlen zum ersten regulären Deutschen Reichstag

Als die junge Demokratie zum ersten Mal stolperte

Wahlplakate zur Reichstagswahl.
Für die Weimarer Koalition endeten die Reichstags-wahlen 1920 mit einem Debakel.

von Heinz Keller

Gerade hatten sich die Weinheimer darauf eingestellt, dass zum ersten Mal in der Stadtgeschichte ein Sozialdemokrat an der Spitze der Verwaltung stehen würde, da bat der von der absoluten sozialdemokratischen Mehrheit in der Bürgerversammlung am 3. Februar 1920 zum neuen Weinheimer Bürgermeister gewählte Heidelberger SPD-Politiker Christian Stock im März, ihn von der Übernahme des Amtes zu entbinden. Der Grund: Reichspräsident Friedrich Ebert hatte ihn als Unterstaatssekretär ins Reichswehrministerium berufen. Der Bürgerausschuss akzeptierte den Wunsch, trat am 10. Mai zur zweiten Bürgermeisterwahl des Jahres 1920 zusammen und wählte einstimmig den Ettlinger Bürgermeister Joseph Huegel zum neuen Stadtoberhaupt. Die Stadtverordneten der USPD enthielten sich dabei der Stimme.

„Echte” Reichstagswahl

Während die Weinheimer Wahlbürger bei den beiden Bürgermeisterwahlen nur Zaungäste sein durften, weil Stadt- und Gemeinde-Oberhäupter 1920 noch nicht direkt vom Bürger gewählt wurden, konnten sie vier Wochen später selbst politisch aktiv werden: bei der Reichstagswahl am 6. Juni 1920, aus der der erste reguläre deutsche Reichstag hervorgehen sollte. Das Wahlergebnis ist bekannt: die „Weimarer Koalition“ aus Mehrheits-SPD, Zentrum und DDP, ein Jahr zuvor als Klassenkompromiss aus den Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung hervorgegangen, verlor ihre Mehrheit. Gestärkt wurden vom Wähler die linken und rechten Parteien und ihre scharfe Kritik an den die Republik tragenden Regierungsparteien. Das sollte sich bei den folgenden Reichstagswahlen fortsetzen.

Aufruf: Wahlpflicht am 6. Juni

Der Wahltag wurde für die Mehrheits-Sozialdemokraten (MSPD), den souveränen Gewinner der Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919, zu einem Debakel: die gemäßigten Sozialdemokraten, die 1919 noch 37,9 Prozent der Stimmen erhalten hatten, kamen nur noch auf einen Stimmenanteil von 21,9 Prozent, aber auch ihre Koalitionspartner mussten Verluste hinnehmen. Vor allem die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP), deren Stimmenanteil drastisch von 18,5 auf 8,3 Prozent sank, aber auch das Zentrum (18,0 %), das mit einem Minus von 1,7 Prozent allerdings glimpflicher davon kam.

Das badische Ergebnis

Im 35. Reichstagswahlkreis, der die Republik Baden umfasste, verlor die MSPD zwei ihrer bisher fünf Mandate, das Zentrum, mit 36,4 Prozent Stimmenanteil diesmal landesweiter Wahlsieger, erhielt sechs Sitze (+ 1), die DDP stellte fortan nur noch zwei Abgeordnete (-1), die DNVP konnte nun zwei Abgeordnete (+ 1) nach Berlin schicken. USPD (2) und DVP (1) zogen erstmals ins Reichsparlament ein.

Weiter mit MdR Geck

Portraitfoto Oskar Gerk
Oskar Gerk

Den Rhein-Neckar-Raum um Mannheim vertrat, wie schon im in der Weimarer Nationalversammlung, weiter der Mannheimer Journalist Oskar Geck (1867-1928). Er stammte aus einer sozialdemokratischen Großfamilie in Offenburg wie sein Onkel Adolf Geck, der 1920 für die Unabhängigen Sozialdemokraten in den Reichstag gewählt wurde. Nach der Mitarbeit bei Onkel Adolfs „Roter Feldpost“ hatte Oskar Geck Jura und Nationalökonomie studiert und war als Korrespondent und Redakteur bei verschiedenen Parteizeitungen tätig. 1903 wurde Gerk Redakteur der Mannheimer „Volksstimme“, 1905 wurde er in den Mannheimer Bürgerausschuss gewählt und zum Vertrauten des Mannheimer Reichstagsabgeordneten Dr. Ludwig Frank. Als Frank vier Wochen nach Beginn des Ersten Weltkriegs an der Front fiel, wurde Geck im Winter 1914 zu seinem Nachfolger als Abgeordneter des Reichstagswahlkreises Baden gewählt. Gerk gehörte bis zu seinem Tod 1928 dem Deutschen Reichstag an.

Blaues Auge für die DDP

Portraitfoto Richard Freudenberg Mitglied des Landtags
Richard Freudenberg, MdL

Das Wahlergebnis in Weinheim spiegelte nur teilweise das Reichsergebnis. Dank des jungen Landtagsabgeordneten Richard Freudenberg (und der enormen Wahlhilfe des „Weinheimer Anzeiger“) fielen die Verluste der DDP in Weinheim wesentlich schwächer aus als im Reichsgebiet: der Stimmenanteil der Linksliberalen sank in der heutigen Kernstadt lediglich um 1,6 Prozent von 18,9 auf 17,3 Prozent. Freudenbergs Enttäuschung galt am Wahlabend eher dem Ergebnis in den Gemeinden um Weinheim als dem Stadtergebnis, von dem er meinte: „Die Demokratie hat sich wacker gehalten“.

Schlappe für die SPD

Das durften bei nur 1,4 % Verlust wohl auch die Wähler der Zentrumspartei (9 %) sagen, die Anhänger der Mehrheits-SPD dagegen konnten es kaum fassen, dass fast 26 Prozent der SPD-Wähler von 1919 das Kreuz diesmal bei einer anderen Partei gemacht hatten, vor allem bei dem sozialdemokratischen Konkurrenten USPD. Während der Stimmenanteil der MSPD in Weinheim von 59,2 auf 33,3 % sank, erhöhte er sich für die Unabhängigen Sozialdemokraten auf 18,4 Prozent. Die als Spartakusbund erstmals antretende KPD kam auf 2,4 Prozent. Auch zum Zugewinn der Deutschnationalen Volkspartei (+3,7 auf 15,12 %), für die auf Platz 16 der badischen Liste der Landwirt und spätere Bürgermeister David Kippenhan aus Ritschweier kandidierte, dürften frühere SPD-Wähler beigetragen haben.

Zwölf Wahlbezirke

Das Stadtgebiet war in zwölf Wahlbezirke eingeteilt. Darunter war der Wahlbezirk „Johannisfeld“ für den Bereich um die Johannisstraße. Die MSPD hatte ihre stärksten Ergebnisse im Gerberbachviertel, rund um die Nördliche Hauptstraße und in „der Kolonie“, wo auch die USPD gut abschnitt. Im Prankel und in der Innenstadt stritten sich DDP, Zentrum, Deutschnationale und Liberale um die Wählergunst, während die KPD die meisten Stimmen im Müll und in der Nordstadt holte.

Weiter mit MdR Geck (Kopie) (Kopie)

Plakatplakat der USPD.
Plakatplakat der USPD.

Die Nachbargemeinden

Im Amtsbezirk Weinheim, in dem auch Schriesheim aus dem Amtsbezirk Mannheim wählte, kamen die MSPP auf 35,7 Prozent, die DNVP auf 23,8, die USPD auf 16,9, das Zentrum auf 16,7, die DDP auf 15,6, die DVP auf 4,5 und die KPD auf 1,8 Prozent.

In Lützelsachsen wurden MSPD (41,1 %) und DNVP (29,7 %) stärkste Parteien, in Hohensachsen/Ritschweier MSPD (33,6) und DVNP (26,5), in Großsachsen DVNP (47) und USPD (16,4), in Leutershausen Zentrum (31,1), DVNP (29,5) und MSPD (26,4), in Schriesheim MSPD (30), in Heddesheim Zentrum (28,5) und MSPD (26,8)in Sulzbach MSPD (29,5), Zentrum und DNVP (je 26,7), in Hemsbach MSPD (36,8) und DNVP (16,9), in Laudenbach MSPD (26,2), Zentrum 24) und DVNP (23,4), in Oberflockenbach MSPD (45,9) und DNVP (26,8), in Rippenweier MSPD (42,1) und DNVP (17) und in Ursenbach DNVP (59,6) und MSPD (19,2).

Einer wurde verbläut

Der Wahltag, berichtete der „Weinheimer Anzeiger“ sei ruhig verlaufen, nachdem am Vorabend die letzte Wahlveranstaltung der Deutschnationalen im Hotel „Prinz Willhelm“ (heute Polizeirevier) von USPD-Anhängern und Spartakisten gesprengt worden war. In Weinheim gingen 80 Prozent der Wahlberechtigten in die Wahllokale, wobei ihnen Kreidepfeile auf den Gehwegen die Entscheidung für den Spartakusbund (KPD) nahelegten. Einen Zwischenfall gab es nach dem Zeitungsbericht, „als ein junger Mann ein Plakat der USPD herunter riss, von Arbeitern dabei erwischt und durchgebläut wurde“. (2020)