Schulischer Neustart aus dem völligen Nichts

1945: Es fehlte es an allem, was man zum Unterrichten braucht

Die Gewerbeschule (heute Uhlandschule).
In den Räumen der Gewerbeschule (heute Uhlandschule) fand der Nachkriegsstart der Weinheimer Volksschule statt. Bild: Stadtarchiv Weinheim.

von Heinz Keller

Wer in den Kriegsjahren zwischen 1939 und 1945 in Weinheim zur Schule ging, wurde zumeist von Lehrkräften unterrichtet, die dem Ende ihres Berufslebens schon ziemlich nahe waren. Da die jüngeren Lehrer zum Kriegsdienst eingezogen waren, mussten die Älteren den Schulbetrieb aufrechterhalten und das führte etwa in der Benderschule, dem heutigen Werner-Heisenberg-Gymnasium, dazu, dass manche Klassen nicht nur jahrelang die gleichen Lehrer hatten, sondern auch von wenigen Professoren – so wurden die Gymnasiallehrer damals angesprochen – gleich in mehreren Fächern unterrichtet wurden. Als die ältesten Benderschüler zu Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht eingezogen und die nächsten Jahrgänge als Flakhelfer nach Mannheim befohlen oder zum „Schanzen“ in den Kaiserstuhl geschickt wurden, gehörten schon mal Fünfzehnjährige zu den Älteren an der „Dr.-Bender-Schule“, die seit 1937 diesen Namen in Erinnerung an den Leiter des Bender’schen Instituts führte.

Erst Anfang März 1945 endete der häufig von Fliegeralarm unterbrochene Schulunterricht in Weinheim und bereits am 28. März besetzten die Amerikaner die Stadt. Der Kampf ums tägliche Brot und die Sorge um die Heimkehr der Männer und Väter beherrschten nun den Alltag und schoben den Gedanken an Schule weit nach hinten, zumal die Amerikaner an einen Neubeginn besondere Forderungen stellten. Für die Lehrer der Weinheimer Schulen gab es in diesen Tagen neue, allerdings fachfremde Aufgaben. Im Juni ordnete Bürgermeister Wilhelm Brück „den Einsatz sämtlicher Lehrkräfte zur Erfassung der Anbaufläche auf Weinheimer Gemarkung“ an. Die Lehrer und Lehrerinnen sollten außerdem den Brennstoffbedarf für den angesichts der allgemeinen Kohlenot mit Sorge erwarteten Winter ermitteln, sie mussten die in Weinheim als Hauptverkehrsmittel vorhandenen und ständig vom Diebstahl bedrohten Fahrräder registrieren, die allerdings nur mit einem Fahrradpass der Militärregierung genutzt werden durften. Und die Lehrer wurden als landwirtschaftliche Hilfskräfte beim Einbringen der überlebensnotwendigen Ernte eingesetzt.

Wo sind Bänke und Tafeln?

Vier Wochen nach Kriegsende gab es aber auch Aufgaben für Lehrer, die ihnen näher lagen als die Mitwirkung an einer städtischen Aktion zur Bereitstellung von Arbeitsschuhen für die Landwirte oder das Sammeln von Heilkräutern. Unter Leitung von Rektor Georg Grünewald von der Friedrichschule, der das Ein-Mann-Schulamt der Volksschule Weinheim personifizierte, wenig später aber zu jenen 23 Weinheimer Lehrern gehörte, die vorläufig vom Schuldienst ausgeschlossen wurden, fanden im Juni Gespräche über die für einen Neubeginn des Schulunterrichts notwendigen Arbeiten statt. Dabei ging es vor allem um die Erfassung der über das gesamte Stadtgebiet verstreuten Schulbänke, Schränke und Tafeln, Lehr- und Lernmittel. Und während die Volksschullehrer beim Schlachthof, in der Ulner-Kapelle, auf dem Speicher der Pestalozzischule und in der Reithalle beim heutigen Hallenbad-Parkplatz nach Schulmöbeln und den Bänden der Lehrerbücherei suchten, besichtigte Rektor Georg Grünewald zusammen mit Gewerbeschul-Direktor Heinrich Geiger die Räume der heutigen Uhlandschule, in denen am 15. August 1945 der Unterricht für die ersten vier Jahrgänge der Volksschule wieder beginnen sollte.

Wer darf unterrichten?

Kurz zuvor, am 31. Juli 1945, erfuhren Weinheims Volksschul- und Gymnasiallehrer, wer beim Wiederbeginn des Schulunterrichts wieder an der Tafel stehen würde, wer vorläufig nicht zugelassen war und wer künftig nicht mehr unterrichten durfte. Zwei Volksschullehrer hatten die Überprüfung ihrer beruflichen Vergangenheit durch die Militärregierung nicht bestanden und waren entlassen worden. 23 Lehrkräfte und damit die Mehrzahl der an Weinheims Volksschulen vor und während des Zweiten Weltkriegs beschäftigten Lehrkräfte durften vorläufig nicht unterrichten und nur 12 Lehrerinnen und Lehrer der Volksschule und 14 Lehrkräfte des Gymnasiums erschienen der Militärregierung politisch unbelastet. Sie mussten aber an drei Wochenenden in Mannheim zu Einführungskursen erscheinen, in denen ihnen die Bedingungen der Besatzungsmacht zur Wiedereröffnung der Schulen erläutert wurden.

Die Militärregierung wollte keinen Lehrer, der den Militarismus verherrlichte, die Nazidoktrin propagierte und Menschen nach ihrer Rasse und Religion unterschied. Es sollte beim Neubeginn auch keine körperliche Ertüchtigung der Schüler erfolgen, die einer vormilitärischen Ausbildung auch nur ähnelte. Erlaubt waren die traditionellen athletischen Übungen, verboten waren Übungsmärsche. Die Lehrbücher mussten von der Militärregierung genehmigt sein, nationalistisch und militaristisch geprägte Bücher, Filme, Lichtbilder, Karten und Pläne aus der Vergangenheit mussten in einem separaten Raum verschlossen und durften auf keinen Fall benutzt werden. Geschichtsunterricht sollte es zunächst nicht geben.

Neustart – für ein paar Tage

Der Unterricht für die ersten vier Jahrgänge der Weinheimer Volksschule begann, wie geplant, am 15. August in den Räumen der Gewerbeschule (heute Uhlandschule) mit den zwölf Lehrerinnen und Lehrern, die den Segen der Besatzungsmacht erhalten hatten, und vierzehn politisch ebenfalls unbeanstandet gebliebenen Gymnasiallehrern, die bis zu dem noch offenen Wiederbeginn des Unterrichts am Realgymnasium – so hieß die Benderschule nun – an der Volksschule unterrichten sollten.

Der Neubeginn beschränkte sich allerdings auf ein paar Tage, denn als das Landratsamt für den Landkreis Mannheim, bislang neben der Militärregierung und der Stadtverwaltung im Schloss untergebracht, Ende August in die Gewerbeschule verlegt wurde, musste die Volksschule ins Gebäude der Dürreschule ausweichen.

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Die Dürreschule, Weinheims ältestes Schulhaus.
Die Dürreschule, Weinheims ältestes Schulhaus und stets die letzte Hoffnung, wenn Schulräume fehlten. Links das ehemalige Porzellan-Wedertz, rechts Foto-Wendel. Im einstigen Lehrer-Wohnhaus (links) ist heute die BBBank. Bild: Stadtarchiv Weinheim.

Ein gequältes Schulhaus

Doch Weinheims erstes simultanes Schulhaus, knapp 100 Jahre alt, befand sich in einem trostlosen Zustand. Kein anderes Weinheimer Schulhaus hatte in den ersten Nachkriegsmonaten so gelitten wie die Dürreschule. Die nach dem Einmarsch der Amerikaner dort untergebrachten ehemaligen Zwangsarbeiter hatten vor ihrem Auszug die Fensterscheiben zertrümmert und die Einrichtung zerschlagen, teilweise verbrannt.

Da war kein schneller schulischer Neubeginn möglich. „Zunächst mussten neue Scheiben eingezogen, Türen repariert, das Haus geputzt und desinfiziert werden. Die alte Heizungsanlage war schadhaft geworden und seitens des Schulamtes wurde auf eine Neuauflage gedrängt. Ferner wurden noch 400 Zentner Koks im Keller gelagert“, heißt es im Protokoll des Schulamtes. Und alles, was an Schulmöbeln und Unterrichtsmaterial zum Neustart in die Gewerbeschule gebracht worden war, musste nun von dort in die Dürreschule transportiert werden. Dafür wurden vorwiegend die Lehrer eingesetzt, die wegen ihrer Nähe zum Nationalsozialismus vorläufig vom Schuldienst suspendiert worden waren.

Liste des Mangels

Nichts verrät mehr über die enormen Schwierigkeiten dieser Zeit als die resignierte Feststellung im Protokoll des Schulamtes vom 26. August 1945: „Zum Schulanfang fehlten Tinte, Kreise, Schwämme, Tintengläser, kurzum alles, was überhaupt notwendig ist, um mit dem Unterricht beginnen zu können“. Hauptlehrer Philipp Pflaesterer, seit Juli Schulamtsleiter, besuchte fast täglich die Weinheimer Geschäftsleute und bettelte um Material für die bevorstehende Unterrichtsaufnahme. Sie erfolgte am 11. September in der notdürftig sanierten Dürreschule für die ersten vier Klassen der Volksschule und die Hilfsschüler, wie die Sonderschüler damals genannt wurden. Auch im Gebäude der Friedrichschule wurde der Unterricht für die ersten vier Jahrgänge wieder aufgenommen.

Ein umstrittenes Projekt

Bis zum Beginn der Weihnachtsferien am 22. Dezember 1945 gab es noch drei bemerkenswerte Termine in der jüngeren schulischen Nachkriegsgeschichte. Am 5. Oktober begann mit zwei Klassen der Volksschule – einmal in der Friedrichschule, einmal in der Dürreschule – der Erstunterricht nach der Ganzhitsmethode, die Weinheim in der deutschen Schullandschaft bekannt machen, aber auch über Jahre hinweg ein pädagogisches Streitthema sein sollte, das Zeitungstitel auslöste wie „Weinheim – ein pädagogisches Mekka“, aber auch eine Resolution der Eltern „gegen Grundleistungstest und Differenzierung“.

Ab dem 15. Oktober wurden auch die Sechst-, Siebt- und Achtklässler wieder unterrichtet. Am 4. Dezember wurde die Schulabteilung Friedrichschule wegen Koksmangels in das Gebäude der Dürreschule verlegt. Schichtunterricht wurde dadurch unvermeidlich: vormittags wurden die Friedrichschüler, nachmittags die Dürreschüler unterrichtet, die älteren Schüler waren am Abend dran. Handarbeits- und Religionsunterricht fanden in der einstigen Kochschule statt.

Lehrerin Sigmund und Hauptlehrer Heinrich Fath harrten derweil mit ihren Klassen bei Notheizung in einem Raum der ansonsten eiskalten Friedrichschule aus, damit das Gebäude nicht unbeaufsichtigt blieb. In diesen Tagen war’s auch den Amerikanern nicht nach Tanzabenden zumute, für die sie sonst gerne die Turnhalle der Schule beanspruchten.

Oberschüler mussten warten

Die Oberschüler des Realgymnasiums, das nun mit keinem Personennamen mehr verbunden sein sollte, mussten weiter warten wie die Handels- und die Gewerbeschüler. Denn die Schulhäuser an der Friedrichstraße und der Schulstraße waren noch immer beschlagnahmt, ohne allerdings von der Besatzungsmacht genutzt zu werden. Deshalb bat Bürgermeister Brück die Militärregierung um Freigabe der Gebäude. Am 10. Januar 1946 sagte Oberst Dawson von der Militärregierung „Yes“ zum „Opening of Realgymnasium at Weinheim“, so dass am 15. Januar nach zehnmonatiger Unterrichtspause Direktor Dr. Hans Pfeiffer und 22 Lehrer 700 Gymnasiasten zum Neubeginn erwarteten – allerdings nicht im noch immer beschlagnahmten „Schiff“, sondern in sieben Räumen der Friedrichschule.