Als im Kurpark die Stahlbadsiedlung entstand

Stahlbad: Zeppelinstraße mit Holzhäusern.
Eine Erinnerung an die einst bis zur OEG-Haltestelle Stahlbad führende Zeppelinstraße und ihre Holzhäuser. Bild: WN-Archiv

von Heinz Keller

Zwischen 1875 und 1905 verdoppelte sich, mit einem steilen Anstieg ab 1890, die Einwohnerzahl Weinheims: von 6.723 auf 12.560. Das hing mit der Wandlung des Ackerbürgerstädtchens zur Industriestadt zusammen. In ihr entstanden Fabriken, die Arbeitskräfte anzogen, seit 1846 war Weinheim Eisenbahnstation an der Main-Neckar-Bahn, seit 1895 befreite die Weschnitztalbahn viele in Weinheim arbeitende Odenwälder von strapaziösen Fußmärschen auf dem Weg zum Arbeitsplatz. Zahlreiche Industriearbeiter verließen ihre Heimat und zogen an den Ort, der ihnen Arbeit bot.

Den drei ältesten Weinheimer Industriebetrieben – der Lederfabrik Heintze & Freudenberg, der Maschinenbaufirma Wilhelm Platz und der Seidenfabrik Rücker – folgten Neugründungen in ganz unterschiedlichen Branchen. Wohl keine andere badische Industriestadt von gleicher Größe bot ein so vielseitiges Branchenprofil wie Weinheim.

Wohnungsmangel für Arbeiter

Alle diese Betriebe der chemischen, metall- und holzverarbeitenden Industrie, der Gummi- und der Nahrungsmittelindustrie brauchten, wie die dominierende Lederindustrie, immer neue Mitarbeiter. Weil sich die Beschäftigungsmöglichkeiten in den Weinheimer Fabriken ständig vermehrten und sich auch die Lohnverhältnisse verbesserten, wurde im beginnenden 20. Jahrhundert der Mangel an Arbeiterwohnungen zu einem permanenten sozialen Problem. 1902 stellte Bezirksarzt Dr. Thomen fest: „Die Wohnungen der minder begüterten Klasse sind in der Amtsstadt meist mangelhaft. Da kleine Wohnungen selten sind, so werden viele kleine, schlecht beleuchtete, ja selbst feuchte Zimmer gemietet. Der Bau von gesunden, preiswürdigen Arbeiterwohnungen ist ein dringendes Bedürfnis“. Die größten Unternehmen Freudenberg, Hirsch und Badenia gingen das Problem mit dem Bau von Arbeiterwohnungen nahe ihrer Produktionsstätten an. Am Jahresende 1920 sagten die Firmen Carl Freudenberg und Sigmund Hirsch der Gemeinnützigen Baugenossenschaft Weinheim einen jährlichen Förderbetrag zu von 120.000 Mark (Freudenberg 100.000, Hirsch 20.000 Mark) zum Bau von Kleinwohnungen zu. Die Unterstützung sollte 20 Jahre lang erfolgen, wurde aber ein Opfer der Inflation.

Die „Kolonie” entsteht

Mit der Schrift „Licht und Schatten in der industriellen Landstadt Weinheim“, einer „Untersuchung über Wohnung, Einkommen und Gesundheit eng wohnender Leute“, stieß Friedrich Carl Freudenberg (1848-1942), ältester Sohn von Firmengründer Carl Johann Freudenberg, 1903 die Gründung eines Gemeinnützigen Bauvereins an. Mit 10.000 Goldmark Freudenberg’scher Starthilfe und 25.600 Mark aus 128 Anteilscheinen der 25 Mitglieder wurden 84 knapp 40 qm große Wohnungen in 24 einfachen Häusern mit Ställen für Kleinvieh in einer (hauptsächlich von Freudenberg-Arbeitern bewohnten) Siedlung zwischen Alter Landstraße und Main-Neckar-Bahn geschaffen. Sie wird bis heute „die Kolonie“ genannt, was wohl auf die zeitgenössischen Bezeichnungen einer Arbeitersiedlung als „Arbeiterkolonie“ oder „Fabrikkolonie“ zurückzuführen ist.

Soziale Notstände

Die Gründung des Bauvereins, der in drei Bauperioden in der Nordstadt und an der Gabelsbergerstraße insgesamt 34 Häuser mit 129 Wohnungen schuf und 1942 in der Baugenossenschaft aufging, brachte soziale Notstände von unvorstellbarem Ausmaß ans Tageslicht. „Wir haben gewusst, dass starke Familien in ungesunden Wohnungen leben. Besonders diesen kinderreichen Familien wollten wir Unterkunft gewähren. 42 Familien haben zurzeit 170 Kinder, manche sechs bis acht. Und wir gaben einer Anzahl von Kranken bessere Wohnverhältnisse“, begründete Friedrich Carl Freudenberg die Gründung des Bauvereins in Tagen wachsenden Wohnungselends, das Bürgermeister Heinrich Ehret 1903 mit 27 obdachlosen Familien an einem Quartalstermin bezifferte.

Für alle Schichten

Sieben Jahre nach dem Bauverein gründete sich 1911 die Gemeinnützige Baugenossenschaft, um „preiswerte und schöne Wohnungen für Minderbemittelte“ zu schaffen und zwar in allen Schichten der Gesellschaft. Sie hatte dabei immer die Unterstützung der Stadt und der Fabrikbesitzer. Die ersten Häuser entstanden an der Blücher- und der Yorkstraße. Eine Gartenstadt sollte im Süden der Gemarkung entstehen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam es allerdings nur zu 22 Hausbauten.

Eng und ungesund

Die Folgen des Ersten Weltkriegs verschärften den Wohnungsmangel vor allem für Arbeiterfamilien, die in ihren kleinen, meist schon von zahlreichen Familienangehörigen überbelegten Wohnungen oft noch zusätzlich sogenannte „Schlafgänger“ aufnehmen mussten, um die Miete bezahlen zu können. Unter der Überschrift „Gefährlicher Wohnungsmangel“ beklagte ein Leser des „Weinheimer Anzeiger“ im Juli 1919: „Mehrköpfige Familien leben in völlig ungenügenden und nicht selten ungesunden Verhältnissen. Moral und Sitte gehen dabei zugrunde. Die lahme Bautätigkeit in Weinheim hat dazu beigetragen, die Wohnungsnot zu verschärfen“. Der Mieterverein Weinheim sprach gleichzeitig von „unhaltbaren Zuständen“. Darauf reagierte eine Gemeinderats-Kommission mit dem Vorschlag, Behelfswohnungen in Blockhäusern zu schaffen.

In den städtischen Akten sind aus dieser Zeit zahlreiche Lieferangebote für Behelfswohnungen bis hin zu transportablen Wohnhäusern aus Freiburg gesammelt. Am 18. August 1919 bot der Mannheimer Elektronikkonzern BBC dem städtischen Wohnungsamt kostenlos zwei Fabrikanbauten an, „die sich leicht in drei Zwei-Zimmer-Wohnungen einrichten lassen“. Im Gegenzug sollte das Wohnungsamt einem Oberingenieur von BBC eine Vier- bis Fünf-Zimmer-Wohnung in Weinheim besorgen.

Kleinwohnungen entstehen

Luftaufnahme des Stahlbads vom 22. Februar 1945 (Luftaufklärer der Royal Air Force).
Am 22. Februar 1945 fotografierten Luftaufklärer der RAF den Westen Weinheims mit der Stahlbadsiedlung (oben) und der „Dietrich-Eckart-Siedlung“ (unten) in-mitten riesiger unberührter landwirtschaftlicher Flächen. Bild: Stadtarchiv Weinheim.

Als Krankenhausarzt Dr. Walter Kauert über fünf Typhusfälle in Weinheimer Arbeiterfamilien berichtete, wurden am Jahresende 1920 Verhandlungen mit dem Reichsvermögensamt über den Ankauf von sieben Mannschaftsbaracken aus dem ehemaligen Kriegsgefangenen-Durchgangslager Rastatt eingeleitet. In ihnen sollten, zur Behebung der dringendsten Wohnungsnot, Kleinwohnungen entstehen. Im März 1921 beschloss der Bürgerausschuss den Barackenkauf zum Stückpreis von 13.800 Mark. Die einfachen, zunächst nicht unterkellerten Holz-Doppelhäuser, jeweils mit zwei 12 qm großen Zimmern und einer 13 qm großen Wohnküüche auf 48 qm Gesamtfläche ausgestattet, sollten nach der Vorstellung des Gemeinderats auf dem Gelände des einstigen Kurbrunnens Weinheim errichtet werden, der 1905 den Badebetrieb eingestellt hatte. In den von der einstigen Kuranlage verbliebenen Gebäuden, dem Kurhaus und der Restauration, waren bereits Wohnungen geschaffen worden.

Umstrittener Standort

Der Standort Stahlbad für die Holzhaus-Siedlung war allerdings umstritten. Das machten (stets anonyme) Leserbriefe an den „Weinheimer Anzeiger“ deutlich. Einem Leser „X“ war das etwa einen Kilometer von der damaligen westlichen Stadtgrenze entfernte „schöne Gelände“ um das Stahlbad zu schade für „Baracken mit Hasenställen“, die besser in der Nordstadt stehen sollten. Ein von der bedrückenden Wohnungsnot betroffener Familienvater „G.M.“, der „mit einer kranken Frau und unterernährten Kindern in einer vollgepfropften Notwohnung kampiert, in der nicht einmal Möbel aufgestellt werden können“, „atmete“ dagegen „glücklich auf“, als ihm das Wohnungsamt eine Barackenwohnung in Aussicht stellte.

Der Bürgerausschuss genehmigte am 30. Juni 1921 die Errichtung von 20 Kleinwohnungen in Fachwerkbauweise und stellte für den Erwerb der Bauteile und ihre Aufstellung „in der Nähe des Stahlbadbrunnens“ eine Million Mark zur Verfügung Das war der Startschuss für die Stahlbadsiedlung, in der es allerdings lange kein elektrisches Licht und keine Straßenbeleuchtung gab und bis zur Eröffnung einer Konsum-Filiale am Kurbrunnenweg (heute Clubhaus BC Stahlbad) auch kein Lebensmittelgeschäft. Doch die Nachbarschaftshilfe funktionierte von Anfang an über einen Sparclub, der 1922 gegründet wurde und dem alle Stahlbadbewohner beitraten.

Im Blick der Royal Air Force

Das Stadtarchiv verwahrt eine Luftaufnahme der Royal Air Force vom 22. Februar 1945, die die Stahlbadsiedlung und die inzwischen entstandene „Dietrich-Eckart-Siedlung“ mit dem Entenweiher und dem Weinheimer Dampfziegelwerk zeigt. Der neue Autobahnzubringer, die neben den OEG-Gleisen verlaufende Wilhelm-Gustloff-Straße (heute Stahlbadstraße) und die aus der Stahlbadsiedlung zur Zeppelinbrücke und dem Güterbahnhof ziehende Zeppelinstraße durchschneiden allesamt unbebautes Gelände, auf dem Weinheim gegen die dramatische Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg angehen konnte, allerdings auf Kosten eines im Frühling prächtig blühenden Obstbaumgürtels um die alte Stadt.

Kämpfe ums Stahlbad

Sitzblockade von Anwohnern im Mai 1982 im Stahlbad.
Mit einer Sitzblockade versuchten Anwohner im Mai 1982 den Abriss der vier Holzhäuser am Westrand der Stahlbadsiedlung zu verhindern, doch sie konnten ihn nur hinausschieben. Bild: WN-Archiv

Heute leben rund 300 Menschen in 160 städtischen Wohnungen am Kurbrunnenweg und an der Zeppelinstraße – mitten in der nach dem Zweiten Weltkrieg buchstäblich aus dem Boden geschossenen Weststadt. Bis in die 1960-er Jahre und bis zum Bau der drei Wohnblöcke auf der Südseite der Zeppelinstraße hatte die Stahlbadsiedlung weitgehend ihr ursprüngliches Bild erhalten können. Die Häuser am Kurbrunnenweg und an der Zeppelinstraße hatten aber zunehmend Nachbarn erhalten und standen zu Beginn der 1980-er Jahre wieder im Blickpunkt der Öffentlichkeit, als in die Mult nicht nur ein Schulkomplex, sondern auch zwei neue Verkehrsadern gelegt wurden: Westtangente und Multring.

Opfer des Verkehrs

Stahlbad, Luftaufnahme (1981)
Luftaufnahme (1981): Mult mit intensiver Wohnlandschaft. Bauland gibt es nur noch auf der Südseite des Stahlbads. Damals kleingärtnerisch genutzt, heute Hotelstandort. Bild: WN-Archiv, Wolf-Rüdiger Pfrang.

Der Multring war vierspurig geplant und sollte ein weitere Weststadt-Innenstadt-Verbindung bringen: über den Güterbahnhof hinweg in den Fabrikweg (heute Kopernikusstraße) und hoch zum Schloss. Daraus wurde nichts und deshalb endet der Multring heute beim neuen Postamt. Bis dahin hat er die vier Fahrspuren, die zu Beginn der 1980er Jahre als „Rennstrecke“ bekämpft wurden und auch deshalb, weil sie an der Zeppelinstraße den Abbruch von vier Holzhäusern der Stahlbadsiedlung notwendig machten. Gemeinsam fanden Stadtverwaltung und Anwohner zu Jahresbeginn 1983 den Weg zu einer Lösung, die heute unverzichtbar erscheint.

Für 14,5 Millionen DM saniert

Das vorläufig letzte Kapitel in der inzwischen 192-jährigen Geschichte des Stahlbads wurde zwischen 1980 und 1993 geschrieben. In den ausgehenden 1970-er Jahren hatte der Gemeinderat beschlossen, die Ein- und Mehrfamilienhäuser der Stahlbadsiedlung durch Geschosswohnungsbau zu ersetzen, wie er das benachbarte Neubaugebiet Mult prägt. Der heftige Widerstand, der damals vom Stahlbad ausging, überzeugte die Stadtmütter und Stadtväter, dass es sinnvoller wäre, die Wohnqualität der Siedlung zu verbessern und damit das traditionsreiche Gebiet um den einstigen Kurbereich zu erhalten. In den 13 Sanierungsjahren wurden 14,5 Millionen DM in die Modernisierung von 174 Wohneinheiten, die Sanierung von Straßen- und Hofflächen und in die Verbindung von Verkehrsberuhigung und Grünplanung gesteckt. Das jahrelang vernachlässigte Stahlbad war damit gerettet, die Sorge, dass die 1980-er Pläne eine Neuauflage erfahren könnten, aber lebt bis heute unter den Bewohnern der inzwischen 100 Jahre alten Häuser rund ums alte Stahlbad-Kurhaus. (2020)