Trumans Besuch in Weinheim: Ausnahmezustand rund um die Friedrichstraße

von Heinz Keller

Am 26. Juli 1945 herrschte Ausnahmezustand rund um die Friedrichstraße: die amerikanische Militärpolizei kontrollierte streng und intensiv, dass die Anwohner von Friedrichstraße, Schillerstraße (heute Hübschstraße) und Bismarckstraße in ihren Häusern blieben und die Fensterläden geschlossen hielten, wie es ihnen befohlen worden war. Der Grund: der amerikanische Präsident Harry S. Truman hatte sich zu einem Besuch in Weinheim angesagt und das zwang die lokale Militärregierung zu größten Sicherheitsmaßnahmen im innerstädtischen Raum zwischen Schloss und Berckheim-Villa, den Zielen des Präsidenten-Besuchs.

Harry S. Truman (1884-1972) war seit dem Tod von Franklin D. Roosevelt am 12. April 1945 amerikanischer Präsident und hatte am 8. Mai 1945, seinem 61. Geburtstag, das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa verkündet: mit der bedingungslosen Kapitulation des NS-Regimes, wie es Roosevelt erstrebt hatte. Als 33. US-Präsident nahm Truman,

zusammen mit Außenminister James F. Byrnes, seit 17. Juli 1945 an der Potsdamer Konferenz teil, die offiziell Drei-Mächte-Konferenz Berlin hieß und nach dem Ende der Kriegshandlungen in Europa auf höchster Ebene die Nachkriegsordnung beriet. Mit am Runden Tisch in Schloss Cecilienhof zu Potsdam saßen bekanntlich Englands Premierminister Winston Churchill und Außenminister Anthony Eden, Generalissimus Josef Stalin und Außenminister Wjatscheslaw Molotow. Wichtigstes Ergebnis der Beratungen der „Großen Drei“ für Deutschland war die Aufteilung des besiegten Landes in vier Besatzungszonen, die am 2. August 1945 im „Potsdamer Abkommen“ verkündet wurde.

 

Truman an der Bergstraße

Fotografie von Heinrich Metzendorfs Jugendstilvilla für Fritz Ludwig Hildebrand.
„Schwedenvilla“ nannten die Weinheimer Metzendorfs Jugendstilvilla für Fritz Ludwig Hildebrand, dann „Dessauervilla“ nach Kommerzienrat Franz Dessauer, schließlich Berckheim-Villa bis zur Brandkatastrophe, die 1983 das Gebäude zerstörte. Bild: WN-Archiv

Acht Tage vor der Verkündung des Abkommens, am 26. Juli 1945, gönnten sich die Repräsentanten der Siegermächte einen Ruhetag in den Verhandlungen. Der amerikanische Präsident, der – wie man heute weiß – am Vortag den die Welt verändernden Befehl erteilt hatte, den Einsatz der ersten Atombombe vorzubereiten, nutzte den sitzungsfreien Tag zu einem Truppenbesuch an der Bergstraße, den er mit einem privaten Treffen in Weinheim verband. Im ersten Band seiner Memoiren, der sich mit „1945 – Das Jahr der Entscheidungen“ befasst, schildert Truman diesen Tag:

„Da am 26. Juli keine Sitzung stattfand, flog ich frühzeitig an jenem Morgen nach Frankfurt a.M., wo General Eisenhower, Generalleutnant Haislip, Generalmajor Bull und Brigadegeneral Hickey mich und meine Begleitung auf dem Flugplatz empfingen. Im offenen Auto durchfuhr ich Frankfurt und inspizierte gleichzeitig die unter dem Befehl von General Hickey stehende 3. Panzerdivision, deren Einheiten längs einer ungefähr 50 Kilometer langen Strecke aufgestellt waren.

In Heppenheim begrüßte mich die Ehrenkompanie der von Generalmajor Alexander G. Bolling befehligten 84. Infanteriedivision mit dem

Spitznamen „Railsplitters“. Nach der Ehrenbezeigung inspizierte ich die Ehrenkompanie unter den Klängen des Missouri-Walzers. Nach ein paar Worten an die Leute fuhr ich mit Generalmajor Bolling in Eisenhowers Panzerauto nach Weinheim in Bollings Hauptquartier. Die Fahrt führte durch mehrere malerische Dörfer, die vom Krieg unberührt schienen. Nur Plakate mit der Warnung „Mineswept to ditch“ – bis zum Straßengraben minengeräumt – erinnerten an den Krieg.

Die rote Fahne

Kurz vor Mittag trafen wir in Bollings Hauptquartier ein, einem stattlichen ehemaligen deutschen Fürstensitz. Die sehr schöne antike Einrichtung war noch vorhanden. In einer Ecke des großen Saals hing eine rote Fahne mit der Inschrift „Die 32. russische Kavalleriedivision Smolensk grüßt die 84. Railsplitter-Division. Die Fahne war General Bolling beim Zusammentreffen mit den Russen an der Elbe überreicht worden“.

„Nach dem Lunch“, erinnert sich Harry S. Truman, „suchte ich Bollings Stabschef, Oberst Louis W. Truman, einen Vetter von mir, in seinem Quartier auf. Anschließend setzte ich die Inspektion der 84. Division fort. Die erste 450 Mann starke Gruppe stammte ausschließlich aus Missouri“. Für Truman, der den Bundesstaat Missouri von 1934 bis 1945 im US-Senat vertreten hatte, war der Truppenbesuch an der Bergstraße damit ein Heimspiel.

Villa statt Schloss

Zeitzeugen haben die Erinnerungen des 33. amerikanischen Präsidenten an seinen Weinheim-Besuch als „ungenau“ bezeichnet. Die an der Bergstraße stationierte 84. Infanterie-Division hatte ihr Hauptquartier in der von Unternehmensgründer Carl Johann Freudenberg 1865 an der Ecke Prankelstraße/Lützelsachsener Straße erbauten, von Urenkel Dr. Helmut Fabricius bewohnten Villa, vor der allabendlich das Sternenbanner, die Flagge der Vereinigten Staaten, eingeholt und am nächsten Morgen wieder aufgezogen wurde. Während eine Militärkapelle die US-Hymne spielte, mussten draußen auch deutsche Passanten in Stille verharren, bis der letzte Ton verklungen war. Wahrscheinlich hing die rote Fahne deshalb auch nicht im Bürgersaal des Schlosses, wie man das den Truman-Erinnerungen entnehmen könnte, sondern in der Villa Berckheim an der Friedrichstraße, wo Generalmajor Bolling sein Privatquartier hatte.

Weinheims schönstes Jugendstil-Bauwerk, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Heinrich Metzendorf für Fritz Ludwig Hildebrand erbaute, nach dem Ersten Weltkrieg von Kommerzienrat Franz Dessauer erworbene und seit 1939 von der Familie von Berckheim bewohnte Villa war am 26. Juli 1945 das Ziel einer sich on Sulzbach nähernden und von Panzerspähwagen angeführten Kolonne von offenen Mercedes-Fahrzeugen. Als sie in die Friedrichstraße einbog, hatten die Militärpolizisten nur noch Augen für die Nachbarhäuser der „Dessauervilla“, wie die Weinheimer das Haus trotz ihrer gräflichen Bewohner weiterhin nannten.

Dennoch gelang einem Nachbarn ein Blick auf das Geschehen: Die Panzerspähwagen, berichtete er später, konnten das enge Tor zum Villengrundstück nicht passieren und wurden deshalb entlang der Bismarckstraße unter den damals noch vorhandenen Kastanienbäumen abgestellt, während die Mercedes-Wagen beim Gärtnerhaus parkten. Nach etwa anderthalb Stunden verließ die Fahrzeugkolonne die Weinheimer Innenstadt und fuhr über Bismarckstraße, Bahnhofstraße und OEG-Brücke zur Autobahn und zurück nach Frankfurt.

Aus Potsdam berichtete Truman danach seiner Frau in einem Brief über seine Begegnung mit der Bergstraße: „Es war mein schönster Tag hier“ und er meinte damit wohl die Zeit der Potsdamer Konferenz.

Nach dem US-Präsidenten empfing General Bolling in der Villa Berkheim hohe Militärs und Politiker, aber auch Sportler wie der Herausforderer des damaligen Boxweltmeisters Joe Louis, den amerikanischen Schwergewichtler Billy Conn. Alexander Bolling wurde noch zum Generalleutnant befördert und ging 1955 als Kommandeur der 3. US-Armee in den Ruhestand. Er starb 1964 im Alter von 68 Jahren und wurde auf dem Nationalfriedhof Arlington beigesetzt.

Besuch bei Vetter Louis

Einer der engsten Mitarbeiter von Generalmajor Bolling, des ranghöchsten US-Militärs in Weinheim, war Oberst Louis W. Truman als Divisions-Stabchef. Er war ein Vetter des Präsidenten und hatte diesem bei seiner Amtseinführung als Adjutant gedient. Oberst Truman wohnte in dem der Villa Berckheim gegenüberliegenden Haus von Dr. Georg Haelsen. Hier kam es zur privaten Begegnung der Vettern. Louis Truman schied nach einer eindrucksvollen Karriere 1967 als Generalleutnant aus dem Dienst der US-Army. Er starb 2004 im Alter von 96 Jahren.

Zurück nach Berlin

Am Abend des 26. Juli 1945 flog Präsident Truman von der Rhein Main Air Base zurück zum einstigen deutschen Militärflughafen Berlin-Gatow, den die Delegationen der Potsdamer Konferenz nun nutzten. Am 2. August 1945 unterzeichnete Truman, zusammen mit Stalin und Clement Attlee, Englands neuem Premier, das Potsdamer Abkommen.

Die Axt am Turm

Die schienenspaltende Axt der „Railsplitters“. Schematische Axtdarstellung in Rotem Kreis mit grünem Rand.
Die schienenspaltende Axt der „Railsplitters“.

Die schienenspaltende Axt der „Railsplitters“ blieb Weinheim noch lange erhalten als Monumentalgemälde auf dem Turm der Wachenburg. Das weithin sichtbare Symbol der 84. US-Infanterie-Division hat eine interessante Geschichte. Die Division wurde 1917, als die USA in den Ersten Weltkrieg eintraten, aufgestellt und als „Lincoln-Division“ bezeichnet, da sie sich hauptsächlich aus Einheiten der Nationalgarde in Illinois, Kentucky und Indiana, den „Lincoln-Staaten“, zusammensetzte. Das Divisions-Abzeichen sollte an Lincolns jugendlichen Gebrauch der Axt erinnern. Im Zweiten Weltkrieg erhielt die Division den Spitznamen „Railsplitters“, denn inzwischen war das Abzeichen verändert worden und Lincolns Axt spaltete jetzt eine Schiene.

Die „Railsplitters“ landeten im November 1944 in der Normandie und stieß über Ardennen, Eifel und Elsass nach Südwestdeutschland vor. Eine Abteilung der Division erreichte über Niedersachsen und Sachsen-Anhalt die Elbe bei Torgau, wo Patrouillen der 84. US-Infanterie-Division aus Kentucky und der 32. sowjetischen Kavallerie-Divsion aus Smolensk aufeinander trafen. Die Führer der Erkundungstrupps, der amerikanische Leutnant Robertson und der sowjetische Leutnant Silwaschko, umarmten sich beim offiziellen Bild eines russischen Kriegsfotografen, doch berühmter wurde die am 27. April nachgestellte Aufnahme eines amerikanischen Fotografen mit GI’s und Rotarmisten auf der zerstörten Elbebrücke. Sie sollte den Sieg über Nazi-Deutschland symbolisieren.

So viel Verbrüderung missfiel dem sowjetischen Diktator Stalin allerdings. Die in Torgau verantwortlichen Kommandeure ließ er aus der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ausschließen.

„Elbe-Day”

Amerikanische und sowjetische Soldaten reichen sich die Hände auf der zerstörten Pontonbrücke über die Elbe bei Torgau.
Amerikanische und sowjetische Soldaten reichen sich die Hände auf der zerstörten Pontonbrücke über die Elbe bei Torgau. Das Bild ist nachgestellt. Die tatsächliche Begegnung von Robertson und Silwaschko hatte am Vortag stattgefunden. Bild:wikipedia

Zur Erinnerung an den historischen „Handschlag von Torgau” findet alljährlich in der nordsächsischen Stadt der „Elbe-Day” mit Veteranen aus Amerika und Russland statt. Zum 50. Jahrestag ihres Treffens wurden Robertson und Silwaschko 1995 zu Ehrenbürgern von Torgau ernannt. In diesem Jahr fällt der „Elbe-Day” Corona zum Opfer. (2020)