Vorweihnachtszeit 1920 auch in Tagen der Not

von Heinz Keller

Mit knapp 15.000 Einwohnern beendete die Bezirksamtsstadt Weinheim vor 100 Jahren das erste der Zwanziger Jahre, das allerdings noch so gar nichts „goldenes“ an sich hatte. Im Gegenteil: 1920 war ein vom Krieg und seinen Folgen geprägtes Jahr mit Wohnungsnot, Versorgungsengpässen, stetig steigenden Lebensmittelpreisen und einer Arbeitslosigkeit, die in Weinheim am Jahresende die 4.000-er Marke überschritt. Auch im Weinheimer Stadtbild  waren die verkrüppelten Kriegsheimkehrer nicht zu übersehen, denen oft nur das Betteln das Überleben ermöglichte.

Es war für viele Weinheimer eine schwere Zeit, aber es war auch Vorweihnachtszeit. Ihr fehlte allerdings fast alles, was heute die Innenstädte auch in Corona-Zeiten glitzernd  schmückt. Es gab 1920 noch keine Weihnachts-beleuchtung, auch keine Nussknacker, wie sie heuer die Innenstadtbesucher grüßen, es gab keinen Weihnachtsmarkt, keine Bratwurst-stände, keinen Glühweinausschank und kein Karussell wie in den Vor-Corona-Jahren. Die Weinheimer Geschäfte gestalteten ihre Schaufenster nicht aufwändig, eher zweck-mäßig, zeigten alle die schönen Dinge, die man zu Weihnachten verschenken sollte, denn die wenigsten Einzelhändler hielten sich ein Warenlager. War ein Artikel verkauft, wurde er aus dem Fenster genommen, und so leerten sich bis zum Fest nach und nach die Auslagen.

Weihnachts-Werbung

Im Anzeigenteil des „Weinheimer Anzeiger“ dominierten die Mannheimer Einkaufsmagneten Schmoller, Fischer-Riegel oder Louis Landauer mit großflächigen Einladungen, aber auch die (heute weitgehend vergessenen) Weinheimer Traditionshäuser priesen ihre Geschenkideen an: einen Muff von Geschwister Mayer, amerikanische Flanells und Moltons von Carl Wild, Stoffe von Gebrüder Rothschild, Schmuck von Georg Nicolai, Fußbälle von Adolf Braun, „Turnzeug“ von Ludwig Riebel oder Bratgänse von Jean Wörtge, Christstollen von Hermann Krautinger und Weine von Wilhelm Rick. Auch Franz Josef Heisel, Begründer des Sommertagszugs, hielt „Ein praktisches Weihnachtsgeschenk“ bereit: Hut, Stock oder Schirm aus seiner Berliner Produktion.

Streit um Weschnitz-Entwässerung

Plan für eine neue Brücke über die beiden Weschnitzarme.
Stadtbaumeister Eberhardt zeichnete den Plan für eine neue Brücke über die beiden Weschnitzarme. An der Stelle, wo sich die Weschnitz teilt, ist der Steg eingezeichnet, den die Weinheimer Ellenbogensteg nannten. Plan: Stadtarchiv

Kommunalpolitisch drehte sich Ende 1920 fast alles um die Entwässerung der Weschnitzniederung. Der Meinungsstreit spaltete sogar die stärkste politische Kraft in Gemeinderat und Bürgerausschuss, die „Mehrheitssozia-listen“ (MSPD).  Ihre Stadtverordneten Böhler, Müller und Eschwey verließen die Partei, wollten aber ihre Mandate nicht zurückgeben, worauf die übrige MSPD-Fraktion ihre Mitarbeit in den Gremien verweigerte und das Bezirksamt anrief, den parteipolitischen Streit zu klären. Die Aufsichtsbehörde sah allerdings keinen rechtlichen Grund für die Mandatsrückgabe und so zog sich die kommunal-politische Blockade bis zur Gemeindereform 1922 hin.

Der Ellbogensteg

Bis dahin sollten auch zwei Dezember-Wünsche des Stadtparlaments erfüllt sein: die Höhere Töchterschule dem Realgymnasium anzugliedern und den Holzsteg über die Weschnitz zu erneuern.

„Ellenbogensteg” nannten die Weinheimer die Fußgängerbrücke an der sogenannten Teilschleuse, wo sich die Weschnitz in die Alte und die Neue Weschnitz teilt. Die mit Holzplanken belegte Brücke verband die bahnnahe Nordstadt um die Kapellenstraße mit dem Bahnhofsbereich. Fahrzeuge konnten sie nicht nutzen und mussten den Umweg über die Steinerne Brücke beim „Pfälzer Hof” (heute Stadthalle) wählen. So war es kein Wunder, dass seit 1911 über den Bau einer leistungsfähigen Brücke diskutiert wurde, die parallel zu den Gleisen der Main-Neckar- und der Odenwald-Bahn die beiden Weschnitzarme verbinden sollte.

Es war die Zeit, da die schienengleichen Übergänge geschlossen werden mussten, weil sie die Menschen und den Fahrzeugverkehr gefährdeten, die diesen Weg wählten. Damals entstand die OEG-Brücke als Ersatz des Übergangs Bahnhofstraße/Viernheimer Straße und auch aus der heutigen Weschnitzstraße führte ein schienengleicher Bahnübergang nach Westen zu den Arbeitsplätzen bei Freudenberg und Hirsch.

Der „Ellenbogensteg” führte über die Weschnitz, als es die Zwillingsbrücke noch nicht gab. Die Fußgängerbrücke lag auf dem Mauerwerk zwischen der Alten Weschnitz (links) und Schwester gibt, die Neue Weschnitz. Am rechten Bildrand ragt das Hauptgebäude de

Die Forderung zur Erneuerung des „Ellenbogenstegs” löste 1920 im Stadtbauamt die erneute Beschäftigung mit einer tragfähigen Brücke über die beiden Weschnitzarme aus, aber erst 1926 gaben Gemeinderat und Bürgerausschuss den zweimal zurückgestellten Plänen grünes Licht. Die „Zwillingsbrücke” konnte gebaut, der Steg abgerissen werden. 2020 wurde die Zwillingsbrücke von einem Neubau ersetzt.

Wahlen zur Handelskammer

Bei den Wahlen zur Vollversammlung der Handelskammer Mannheim im November 1920 ging es auch um die Repräsentanz von Industrie und Handel aus Weinheim. Aus Industrie und Großhandel wurden Geheimrat Hermann Ernst Freudenberg und Badenia-Direktor Arno von Arndt gewählt, aus dem Einzelhandel Hans Keller (Eisenhandlung Jochim).

Paulina Rothschild (1884-1937)
Paulina Rothschild (1884-1937). Bild: Stadtarchiv

Rothschild spielt Beethoven

Auch in Weinheim wurde 1920 der 150. Wiederkehr des Geburtstages von Ludwig van Beethoven gedacht. In der Aula des Real gymnasiums veranstalteten der Gemeinderat und der seit 1918 bestehende Kammermusikverein Weinheim eine Beethovenfeier, die in der Region starken Anklang fand. In ihrem Mittelpunkt stand das Klavierkonzert Es-Dur mit der Weinheimer Pianistin Paulina Rothschild und dem Orchester des Nationaltheaters Mannheim.

„Hause” in allen Blättern

Eine Geschichte aus Leutershausen rauschte im Dezember 1920 durch den badischen Blätterwald. In der Bergstraßengemeinde habe, so war überall zu lesen, ein Küfer in einem Fass, das ihm zum Ausbessern übergeben worden war, 54.000 Mark in Gold und Silber gefunden. Das Bürgermeisteramt Leutershausen klärte schnell auf: Falschmeldung oder, wie man seit Trump sagt: Fake News.

(2020)

Vergessene Weinheimer: Paulina Rothschild, Pianistin und Komponistin

So lange sie eine gefeierte Pianistin war, schmückte sich Weinheim gern mit Paulina Rothschild. Als sie von den Nationalsozialisten mit Auftrittsverbot belegt wurde, weil sie Jüdin war, wurde der Kreis derer, die zu ihr hielten, sehr klein. Das über zwei Jahrzehnte lang glanzvolle Leben der bekanntesten unter den fünf Töchtern des Weinheimer Kaufhausbesitzers Wolf Rothschild endete in Armut. Paulina Rothschild starb im Januar 1937, 52-jährig, in Heidelberg an den Folgen einer Operation. Das Schicksal ihrer ältesten Schwester Sophia blieb ihr erspart: sie wurde 1940 nach Gurs, 1941 nach Riga deportiert und ist seitdem verschollen. Zuvor schon waren die anderen Rothschild-Töchter ausgewandert: Betty Bergen 1934 nach Montevideo, Frieda Braun 1937 in die USA, Bertha Maier 1937 in die Niederlande.

Große Musikpädagogen

In Alfred Einsteins „Das neue Musiklexikon” (1926) kann man über die 1884 geborene Konzertpianistin und Komponistin Paulina Rothschild lesen: Sie „wurde nach anfänglichem Unterricht in ihrem Heimatstädtchen Schülerin von Wilhelm Bopp in Mannheim, des nachmaligen Rektors der k.u.k. Akademie der Tonkunst in Wien. Nach Absolvierung ihrer Studien an der Hochschule für Musik in Mannheim kam sie zuerst zu Professor Heinrich Ordenstein nach Karlsruhe ans Großherzogliche Conservatorium für Musik, dann zu Alfred Hoehn nach Frankfurt und zu Carl Friedberg an die Rheinische Musikschule in Köln, in späteren Jahren zu Max von Pauer ans Königliche Konservatorium für Musik in Stuttgart. Schon früh verlegte sich Paulina Rothschild, angeregt von Professor Bopp, auf das Gebiet der Klavier-Kammermusik und ist diesem Spezialgebiet auch treu geblieben. Seit 1924 hat sie sich mit Gösta Andreasson vom weltberühmten Busch-Quartett und Hans Bottermund, dem Solo-Cellisten der Berliner Philharmoniker, zu einem Trio vereinigt”.

Tönendes Geschenk

In den 1988 vom Jerusalemer Leo-Baeck-Institut herausgegebenen „Kurzbiographien zur Geschichte der Juden 1918-1945” bezeichnet der deutsch-israelische Historiker Joseph Walk die Weinheimerin als „bedeutende Komponistin und Pianistin”, die unter anderem den 127. Psalm als Chor mit Bass- und Tenorsolo vertonte. Diese sehr eigenwillige Komposition widmete Paulina Rothschild 1906 der jüdischen Gemeinde Weinheim als Festgabe zur Einweihung ihrer neuen Synagoge an der Bürgermeister-Ehret-Straße. Die Sprengung des Gotteshauses am 10. November 1938 musste sie nicht mehr miterleben.

Konzertreisen hielten Paula Rothschild häufig fern von ihrer Heimatstadt, aber wenn es galt, eine bedeutende Veranstaltung mit klassischer Musik zu schmücken, waren sie oder ihre Schüler dabei. 1927 spielte Dr. Zengeler, ein Rothschild-Schüler, zur Einweihung des Saalbaues „Pfälzer Hof” (heute Stadthalle). Im Januar 1909 hatte die Pianistin im Konzertsaal des Hotels „Prinz Wilhelm” (heute Polizeirevier) ein Wohltätigkeitskonzert zu Gunsten der Erdbebenopfer in Sizilien mit Werken von Bach, Beethoven, Chopin und Liszt bestritten.

Ende der 1920-er Jahre war Professor Rudolf Serkin, einer der großen Pianisten des letzten Jahrhunderts, ihr persönlicher Gast in Weinheim. Serkin stammte aus einer Familie russischer Juden und galt bereits mit fünf Jahren als pianistisches Wunderkind. 1915 debütierte er als Zwölfjähriger mit den Wiener Philharmonikern. 1935 emigrierte Serkin, Schwiegersohn des berühmten Geigers Adolf Busch, in die USA und begründete mit Busch das Marlboro Music Festival in Vermont.

Kammermusikverein mitbegründet

Außerordentliche Verdienste um Weinheim erwarb sich Paulina Rothschild, als sie zusammen mit ihrem Schwager Marx Maier, Kantor der jüdischen Gemeinde Weinheim und Religionslehrer am Realgymnasium, 1918 den Kammermusikverein Weinheim gründete. Mit Unterstützung der Unternehmerfamilien Hilfebrand, Freudenberg und Hirsch wollten die Beiden „einem größeren Kreis von Musikfreunden Konzerte bieten, die sonst nur in den Großstädten veranstaltet werden konnten” (Daniel Horsch).

Die Nationalsozialisten belegten die berühmte Pianistin mit Auftrittsverbot. In einem der Häuser, die vom Rosslederwerk Hirsch an der Scheffelstraße für Mitarbeiter errichtet worden waren, fand Paulina Rothschild Unterkunft und hielt sich mit Klavierunterricht über Wasser. Die wenigen verbliebenen Anhänger der Künstlerin schickten ihre Kinder in kurzen Zeitabständen zum Unterricht, um einen Vorwand zur finanziellen Unterstützung der Pianistin zu haben.

(2020)