1945: Leer war Nikolaus’ Sack und das Christkind fror

Erste Friedensweihnacht zwischen Hoffen und Bangen

von Heinz Keller

Weihnachten wird auch in diesem Jahr, trotz oder wegen Corona, ein Fest im Überfluss sein und selbst wer arm ist, hat in diesen Tagen mehr als die Menschen in den Weihnachtstagen 1945. Städte und Wohnungen lagen damals in Trümmern, viele Familien waren noch getrennt, Frauen warteten auf die Heimkehr ihrer Männer und Söhne aus der Kriegsgefangenschaft.

Es fehlte an allem, an Nahrungsmitteln, Kleidung und Heizmaterial. Die meisten Weihnachtsbäume waren gestohlen. Leer war Nikolaus’ Sack und das Christkind fror – aber es fielen keine Bomben mehr. Das erste Weihnachtsfest im Frieden, nach sechs Kriegsweihnachten, war von vielem belastet, aber über allen Sorgen und Nöten stand ein Stern der Hoffnung. Er leuchtete zart über der nasskalten Weinheimer Landschaft, die den Schrecken des Krieges ohne größere Trümmer überlebt hatte. Die Menschen, die, wie seit langem nicht mehr, in die Gottesdienst der Pfarrer Hermann Brecht, Siegfried Farr, Karl Achtnich und Emil Hoferer strebten, beteten in der Peterskirche, der Stadtkirche, in St. Laurentius und Herz Jesu um eine glückliche Heimkehr ihrer Lieben, um Brot für die hungernden Kinder und um eine bessere Zukunft für sich und das ganze Volk.

Auch nach 75 Jahren darf man Empfindungen wiederbeleben, die um Weinheim verdiente Frauen und Männer mit der Weihnachtszeit 1945 verbanden, weil sie uns heute Mut machen können.

 

Daran lasst uns glauben!

Richard Freudenberg
Richard Freudenberg

Richard Freudenberg war damals in einem Darmstädter Gefängnis inhaftiert. Kurz nach dem Einmarsch der Amerikaner am 28. März 1945 war er von der US-Militärregierung als Bürgermeister von Weinheim und später auch als Landrat des damaligen Landkreises Mannheim eingesetzt worden. Im Juni hatte ihn die Sicherheitspolizei unter dem nie begründeten Vorwurf der Beleidigung der Besatzungsmacht verhaftet und im September wieder entlassen. Im Oktober war der große alte Mann der Weinheimer Kommunalpolitik unter Hausarrest gestellt und im November erneut verhaftet worden, diesmal wegen seiner Zugehörigkeit zum Aufsichtsrat der unter alliierter Anklage stehenden Deutschen Bank.

Aus der Haftanstalt schrieb Richard Freudenberg einen Weihnachtsbrief an seine Familie: „Die Kerzen, die auch in diesem Jahr brennen, künden in der dunkelsten Zeit des Jahres, dass es auch wieder Licht wird. Und daran lasst uns glauben!“ Der Mann mit dem großen Herzen für seine Heimatstadt Weinheim ahnte in der Adventszeit 1945 nicht, dass er bis Februar 1947 in verschiedenen Lagern festgehalten werden würde. Doch sein Blick ging über die Probleme hinaus, in die das Kriegsende die Welt und vor allem Deutschland gestellt hatte. Zwei Empfindungen beschrieb er in seinem Weihnachtsbrief aus dem Gefängnis. Die Dankbarkeit, nicht in der sowjetisch besetzten Zone beheimatet zu sein, und die Hoffnung auf ein vereintes Europa: „An ein werdendes Europa zu glauben, ist auch heute meine Hoffnung, wenn nicht noch größeres Leid kommen soll“. Daneben stellte der Häftling der Besatzungsmacht – auch als Mahnung an seine Kinder und ihre Generation – den Selbstvorwurf, „sich nicht noch stärker zu der als richtig erkannten Linie bekannt“ zu haben und „nicht genug Mut gehabt“ zu haben, „die falschen Propheten zu bekämpfen“.

Heiligabend in der Waschküche

Die Weihnachtskerzen brannten, soweit vorhanden, am 24. Dezember 1945 häufig in Kellern und Waschküchen, obwohl es in Weinheim so gut wie keine Kriegsschäden gegeben hatte. Aber Weinheim musste im damaligen Stadtgebiet, der heutigen Kernstadt, zeitweise über 4.000 Besatzungsangehörigen Wohnraum schaffen. Dafür waren schon kurz nach Kriegsende am Wachenberg, am Hirschkopf und im Prankel viele Häuser beschlagnahmt worden. Ihre Besitzer und Mieter suchten irgendwo Unterschlupf: in Kellerräumen, die während des Krieges als Luftschutzräume gedient hatten und für längere Phasen des Fliegeralarms mit Schlafmöglichkeiten ausgestattet worden waren, oder in Waschküchen, in denen nun gekocht und gewaschen wurde und wo die mühsam ergatterten Zuckerrüben zu leckerem Sirup verarbeitet wurden.

Von heute auf morgen (und teilweise für bis zu zehn Jahre) mussten die Menschen ihr Haus und ihre Wohnung verlassen. Sie suchten Zuflucht bei Verwandten und Freunden, stießen dort aber häufig auf fliegergeschädigte Mannheimer oder die ersten Heimatvertriebenen.

Auf engstem Raum

Lilly Pfrang, die große Dame der Weinheimer CDU, Trägerin der  Bürgermedaille unddes Bundesverdienstkreuzes
Lilly Pfrang, die große Dame der Weinheimer CDU, Trägerin der Bürgermedaille unddes Bundesverdienstkreuzes

Lilly Pfrang, große Dame der Weinheimer CDU und Trägerin von Bürgermedaille und Bundesverdienstkreuz, lebte 1945 mit ihrem anderthalbjährigen Jungen in quälender Ungewissheit über das Schicksal ihres als vermisst gemeldeten Mannes. Die 25-Jährige

teilte an der Siegfriedstraße das Los aller Anwohner, das Haus verlassen zu müssen. Sie suchte Zuflucht in der Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung der Schwiegermutter, in der bereits zwei fliegergeschädigte Mannheimerinnen lebten. An dem Tauschhandel, der damals blühte, aber nur Menschen satt machte, die reizvolle Tauschobjekte besaßen, konnten sich die Überlebenden der Bombennächte nicht beteiligen. Aber sie wurden am Heiligen Abend einbezogen in das fast zeremonielle Öffnen des Care-Pakets, das die amerikanische Hilfsaktion Care mit lange entbehrtem Inhalt ausgestattet hatte: Schokolade, Kaffee, Milchpulver, Trockenei, Corned Beef und „Prem“, heute als Frühstücksfleisch bekannt, zauberten am 24. Dezember 1945 Glück in die ausgemergelten Gesichter.

Herzen sprachen

Der Normalbürger und mehr noch die Neubürger waren bei den Hungerrationen der ersten Nachkriegszeit drauf angewiesen, dass die Erzeuger von Nahrhaftem ihr Herz sprechen ließen. So wie es Bäckermeister Werner Becker, später alle Jahre Schöpfer einer „Brezel wie e Scheierdor“ für den städtischen Neujahrsempfang, damals tat für Margarete Fritsch. Die spätere Ehrenvorsitzende des Schlesiervereins und der Arbeiterwohlfahrt Weinheim erinnerte sich zeitlebens dankbar an die Gaben aus der Beckerschen Backstube an der Alten Postgasse, die ihr das Einleben als Heimatvertriebene ein bisschen leichter machte. Die junge Frau hatte ein Jahr voller Schrecken hinter sich, als sie in der Adventszeit 1945 erstmals nach Weinheim kam, das im Februar 1946 endgültig ihre neue Heimat werden sollte.

So weit die Füße tragen

Für Margarete Fritsch, die am 12. Februar 1945 ihre niederschlesische Heimatstadt Jauer auf der Flucht vor der heranrückenden Roten Armee verlassen hatte, gab es am Heiligen Abend schon wieder einen Stern der Hoffnung. Nach dem wochenlangen Fußmarsch über das Riesengebirge, durchs Egerland und durch Oberfranken war sie mit ihrem sechsjährigen Jungen in der Nähe von Lichtenfels angekommen. Hunderte von Kilometern waren die neun Frauen und Kinder aus Jauer unterwegs, meist zu Fuß, weil die Züge überfüllt waren, meist hungrig, weil man selten etwas zu essen bekam, aber oft von Hofhunden verjagt wurde, immer müde und dankbar für ein Nachtlager in Kirchen, Kellern, Waschküchen und Scheunen.

Die Hoffnungslosigkeit der Heimatvertriebenen wurde verstärkt von der Ungewissheit, was aus den Männern geworden war. Margarete und Bruno Fritsch fanden sich in Oberfranken wieder. In Weinheim ebnete ihnen die Familie des Neffen viele Wege. Bruno Fritsch hat dafür als Stadtrat, Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt und der Landsmannschaft Schlesien mit großem kommunalpolitischem Engagement für Weinheim zurückgezahlt, wie seine Frau auch. Beide haben die Bürgermedaille erhalten, die nach dem Ehrenbürgerrecht zweithöchste Stadtauszeichnung.

„Ä ganzi Worscht“

Margarete Fritsch
Margarete Fritsch

Zur ersten Friedensweihnacht gehört auch die Geschichte eines Jungen aus der Untergasse. „Was kriegscht’n Du zu Woinachde?“, hatte ihn sein Nachbar, der Fuhrunternehmer Wilhelm Reitermann, gefragt. Wie aus der Pistole geschossen kam die Antwort des späteren Friseurmeisters Dieter Kogel: „Ä ganzi Braadworscht un Kadoffelsalad, so viel isch will!“. Der Dreizehnjährige strahlte dabei wie ein Putzeimer, denn im Hause Kogel hatte es, wenn überhaupt, für die vier Buben bislang nur jeweils eine halbe Bratwurst und zwei Löffel Kartoffelsalat gegeben – mehr war nicht drin im Dezember 1945. Da war die weihnachtliche Sonderzuteilung von zwei Pfund Mehl und 400 Gramm Zucker schon etwas ganz Besonderes. (2020)