Vor 50 Jahren: Entscheidungen für Weinheims Stadtentwicklung

In der Weststadt erfüllten sich viele Träume

Alter Stadtplan Weinheim.
Der für die in Weinheim stationierten US-Soldaten gedruckte Stadtplan kennt noch keine Weststadt. Bilder: WN-Archiv

von Heinz Keller

Weinheim. Als die amerikanischen Panzer am 28. März 1945 Weinheim erreichten, trafen sie am Gaswerk, den heutigen Stadtwerken, auf das erste geschlossene Wohngebiet, denn die westliche Bebauungsgrenze der knapp 19.000 Einwohner zählenden Stadt lag damals auf der Linie Gaswerk-Fichtestraße-Schlachthof (heute städtischer Bauhof). Westlich davon gab es nur vereinzelte Häuser, das Stahlbad, die nach dem NS-Ideologen und ersten Chefredakteur des NSDAP-Parteriorgans „Völkischer Beobachter“, Dietrich Eckart, benannte Siedlung, die Hühnerfarm Fornoff und die Ziegelwerke. Achtlos hatten die Amerikaner ein Gebiet durchquert, in dem es nur eine große Straße gab, die Reichsstraße 38 als Verbindung zum Autobahnanschluss Viernheim. Deshalb enthielt die „Map of Weinheim“, die die Militärregierung ihrer Broschüre „A Guide through Weinheim“, einem Stadtführer für die in Weinheim stationierten Besatzungsangehörigen, voranstellte, keine Informationen über das westliche Vorland Weinheims. 75 Jahre später leben in diesem Gebiet, der Weinheimer Weststadt, mehr Menschen als 1945 in der gesamten Stadt. Unser Beitrag erinnert an die entscheidenden Jahre für Weinheims heute weitaus größten Stadtteil.

Die Weichen zur Bebauung der von einem Obstbaumgürtel und feuchten Wiesen im alten Neckarbett geprägten Landschaft westlich des sinnigerweise an der Stadtrandstraße (heute Händelstraße) endenden Wohngebiets wurden entscheidend in den 1960-er und 1970-er Jahren gestellt. Erste Wohnblocks an der Mannheimer Straße und an der (heutigen) Händelstraße, mit Mitteln aus der 600.000-DM-Jubiläumsspende der hundertjährigen Firma Carl Freudenberg stark gefördert, konnten den angespannten Wohnungsmarkt nicht entscheidend entlasten. Ende 1946 hatte Weinheim knapp 23.000 Einwohner, eine starke amerikanische Besatzung und 2.400 Wohnungssuchende. Wohnungsneubau war also, auch in den Hungerjahren, das wichtigste kommunalpolitische Thema.

Zukunft im Westen

Auch nach der Verabschiedung des Aufbauplans Südstadt, der 1958 die privat finanzierte Bebauung des Geländes zwischen Prankelstraße und südlicher Gemarkungsgrenze, das heutige Wohnquartier mit den Musiker-Straßennamen, ermöglichte, zeigte sich schnell, dass Weinheims Zukunft im Westen liegen würde. Doch ebenso schnell wurde auch klar, dass der städtische Haushalt zwar mit Mühe die Erschließung großer Baugebiete finanzieren konnte, die Stadt sich aber für die Verwirklichung der Bebauungspläne finanzkräftige Partner suchen musste. Sie fand sie in Wohnungsbaugesellschaften und Hilfswerken, schloss Baulücken zwischen Ahorn-/Stahlbadstraße und Mannheimer Straße, erweiterte bestehende Wohngebiete, doch eine spürbare Verringerung der nach wie vor hohen Zahl von 1.500 Wohnungssuchenden gelang erst 1958/59, als Stadtplaner Dix mit seinem Baunutzungsplan und dem daraus entwickelten Flächennutzungsplan die OEG-Schienen nach Süden übersprang und an neuen Straßen, die die 1959 die Namen bedeutender Städte in den ehemaligen deutschen Ostgebieten erhielten, ein Programm mit 800 neuen Wohnungen möglich wurde.

Bis an die südliche Gemarkungsgrenze, die die Schienen der Wormser Bahn markierten, wurde die Baulanderschließung vorangetrieben, mit der sich das einstige Allmendgelände rasant veränderte. Die in den Himmel ragenden Baukräne markierten den Willen, die Wohnungsprobleme endlich in den Griff zu kriegen und den vom Krieg und von den Kriegsfolgen betroffenen Fliegergeschädigten, Heimatvertriebenen, Spätheimkehrern und DDR-Flüchtlingen eine Heimat zu geben.

Planerische Herausforderung

Neubaugebiete Kuhweide Nord (Luftbild)
Kraftakte im sozialen Wohnungsbau: die Neubaugebiete Kuhweide Nord, die für 1.200 Menschen Wohnraum schuf (Vordergrund), und dahinter die Kuhweide-Siedlung mit 156 Eigenheimen. Noch ungestaltet ist der Waidsee, eröffnet der 2. Abschnitt der A5.

Die 1960-er Jahre forderten die Planer heraus und auf dem Ratstisch im Schloss landeten viele Vorschläge, wie die Strukturprobleme dieser Zeit gelöst werden könnten. Oberbürgermeister Rolf Engelbrecht musste allzu hohe Erwartungen dämpfen: „Auf die Stadt kommen so viele große Projekte zu, dass man sich kaum vorstellen kann, wie sie auch nur in einer Generation erledigt werden können“.

Für die stetig wachsende Weststadt wurde 1967 ein neuer Flächennutzungsplan erstellt, der eine Wohnbebauung für 18.000 Einwohner vorsah und auch Gelände für ein Schulzentrum und ein Einkaufszentrum auswies. Der Schwerpunkt der Wohnbauplanung verlagerte sich jetzt von den Straßen mit den ostdeutschen Städtenamen und der vom späteren Ehrenbürger Wolfgang Daffinger leidenschaftlich betriebenen Kuhweide-Siedlung am heutigen Friedrich-Ebert-Ring nach Norden zu den Neubaugebieten Kuhweide-Nord mit den dominanten Achtgeschossern an der Konrad-Adenauer-Straße und „Am Weinheimer Kleeblatt“, das mit dem Bau des Main-Neckar-Schnellwegs, der heutigen A 5, entstanden war. 75 Jahre nach dem Einmarsch der Amerikaner am 28. März 1945 beginnt das Siedlungsgebiet der Weinheimer gleich hinterm Autobahnkreuz, das den Namen ihrer Stadt trägt.

Neues Symbol: „die Banane”

Die „Banane“ 1970 (Luftbild)
Die „Banane“ 1970: noch fehlen die Straßen mit den Namen der nordbadischen Städte, an denen sich die Anschlussbebauungen der ehemaligen Hühnerfarm Fornoff und die Gewerbebetriebe angesiedelt haben. Luftbild: Pfrang

An der Karlsruher Straße, die zuvor Mannheimer Straße hieß und als R 38/B 38 die heute kaum mehr vorstellbar schmale Hauptverbindung zum Autobahnanschluss bei Viernheim und nach Mannheim war, wuchs ein 55 Meter hoher Wohnungsriese mit 17 und 15 Geschossen aus den einstigen „Lettenlöchern“, aus denen die Weinheimer Ziegelwerke jahrzehntelang das Material zur Herstellung von Millionen von Mauerziegeln entnommen hatten. Für den zunächst nach seinem Erbauer, dem schwäbischen Bauunternehmer Pfleiderer, genannten Wohnriesen hatten die Weinheimer bald einen anderen, bis heute gebräuchlichen Namen: „die Banane“. Sie ist, neben dem (heute nicht mehr) „Blauen Haus“ der Wohnanlage auf der einstigen Hühnerfarm Dietrich (Schumacher-/Heuß-Straße), längst zum Symbol für das eindrucksvolle private und städtische Engagement im Wohnungsbau der 1960-er und 1970-er Jahre geworden, auch wenn es danach noch eine Reihe von Baumaßnahmen gab, denn das Interesse am Wohnen in Weinheim ist unverändert hoch.

Noch ist die Baugeschichte der Weststadt nicht abgeschlossen. Sie hat neben Wohngebäuden auch Kirchen und Schulhäuser geschaffen, eine Jugendherberge und ein Rettungszentrum, Sportstätten und Einkaufsmöglichkeiten für fast alle Wünsche. Die Weststadt hat im Rolf-Engelbrecht-Haus einen an ihren großen Förderer erinnernden Mittelpunkt erhalten, eine „grüne Lunge“ mit dem Waidsee und der Erinnerung an die Urzeit, als Mammute die Bergstraße entlang wanderten, zwei neue Siedlungen sind ihr mit der Waid und der Ofling zugewachsen. Die Entwicklung des Stadtteils hat das Verschwinden des im Frühjahr einst so blütenreichen Obstbaumgürtels in der Mult begründet und in ihrem steten Wachstum inzwischen auch die Mannheimer Straße nach Norden überschritten mit den Bauten des Kreises für Bildung und Gesundheit.

 

Das „Blaue Haus” an der Kurt-Schumacher-Straße.
Das „Blaue Haus” an der Kurt-Schumacher-Straße präsentiert sich heute in zarteren Farbtönen, aber es ist nach wie vor der „Höhepunkt“ der Wohnbebauung auf der einstigen Hühnerfarm Dietrich.

Vieles, was heute die Weststadt zu einem der erfolgreichsten Kapitel der Stadtgeschichte macht, ist vor 50 Jahren geplant und entschieden worden. Es war eine gute Zeit für Weinheim.

(2020)