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Händelstraße: Die erinnerungsschwere Geschichte der Wohnblocks an der Stadtrandstraße

Baulücke öffnet Blick in die jüngere Stadtgeschichte

von Heinz Keller

Weinheim. Die Lücke, die mit dem Abriss des ersten Wohnblocks der Baugenossenschaft an der Händelstraße entstanden ist, lädt den Passanten ein zu einer gedanklichen Reise in die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Fichtestraße die westliche Grenze der geschlossenen Wohnbebauung Weinheims bildete. Westlich davon gab es, ohne direkte Anbindung an die Stadt, lediglich das Stahlbad, die von ihren nationalsozialistischen Straßennamen befreite Siedlung und ein paar Einzelgebäude. Keine Schulen, kein Krankenhaus, keine Großmärkte, keine Gewerbebetriebe, keine Wohnbauten, keine Kirchen, keine Tankstellen. Die Erinnerung daran macht deutlich, in welchem Umfang in Weinheim in den letzten 70 Jahren Ackerland in Bauland umgewandelt wurde.

Das allerdings war in den ersten Nachkriegsjahren dringend notwendig, denn mit den Ereignissen und den Folgen des Krieges war die Zahl der in Weinheim lebenden Menschen sprungartig von 18.600 auf 25.000 angestiegen. Wohnraumbeschaffung war deshalb die wichtigste kommunalpolitische Aufgabe dieser Zeit: 1949 fehlten in Weinheim 1.300 Wohnungen. Mit der Verabschiedung eines Generalbebauungsplans machten sich Gemeinderat und Stadtverwaltung an die Sisyphusarbeit, die Wohnungsnot zu lindern. Das Nibelungen-Viertel wurde nach Norden zum Langgassenweg hin erweitert, zwischen Ahornstraße und Mannheimer Straße entstand das Wohngebiet mit den Baumnamen und auch auf den Schafäckern wurden Siedlungshäuser gebaut. Aber das alles brachte noch keine wirkliche Entspannung, weil, wie in den vorangegangenen Jahren des „Dritten Reichs“, überwiegend Ein- und Zweifamilienhäuser errichtet wurden.

Der Bau von mehrstöckigen Wohnblocks war das Gebot der Stunde, seine Verwirklichung aber, so kurz nach der Währungsreform, eine Frage der Finanzierung. Wieder einmal, wie schon so oft in der jüngeren Stadtgeschichte, kam Hilfe von außen: anlässlich ihres 100-jährigen Bestehens gründete Weinheims größter Arbeitgeber 1949 die „Carl-Freudenberg-Wohnbauhilfe“ und stattete sie mit einem Stiftungskapital von 600.000 DM aus. Außerdem stellte das Unternehmen der Stadt Weinheim 900.000 DM zur Unterstützung kommunaler Aufgaben zur Verfügung. 600.000 DM sollten, in Zusammenarbeit mit der Gemeinnützigen Baugenossenschaft der Stadt Weinheim, für den Wohnungsbau, 300.000 DM für den städtischen Schulhausbau verwendet werden.

Das war das Signal zum Start eines Wohnungsbauprogramms, das junge Familien, Heimatvertriebene, Fliegergeschädigte und Besatzungsgeschädigte sehnlichst erwartet hatten. Mit der Freudenberg-Spende, die damals einen enormen Wert darstellte, entstanden in den folgenden Jahren Mehrfamilienhäuser an der Mannheimer Straße, an Stadtrandstraße, Breitwieserweg, Tafelacker, Heinestraße, Alte Landstraße und Wormser Straße.

Im November 1949 begannen die Arbeiten für die ersten Wohnblocks der Baugenossenschaft westlich der Fichtestraße. Die viergeschossigen Mehrfamilienhäuser erstanden an einer neuen Straße, die vom Breitwieserweg nach Norden zum städtischen Schlachthof verlief und den damals zutreffenden Namen Stadtrandstraße erhielt. Der Name war schon 1953 überholt und wurde in Händelstraße umgewandelt, weil inzwischen auch westlich der Stadtrandstraße gebaut wurde.

Schnell und billig sollte neuer Wohnraum geschaffen werden. Deshalb entstanden die Wohnblocks der Baugenossenschaft, zuerst an der Mannheimer Straße, dann an der Stadtrandstraße und am Breitwieserweg, in Schüttbeton: Trümmerschutt von den schweren Bombenangriffen auf Mannheim wurde zermahlen und mit Zement und Feinmaterial versetzt. Die beiden ersten Wohnblocks entstanden mit Kosten unter 30 DM für den Kubikmeter umbauten Raums.

Im März 1950 wurde an 48 Familien, die bisher in unzureichenden Wohnverhältnissen gelebt hatten, die lange ersehnte Wohnungszuweisung im ersten Block an der Stadtrandstraße vergeben. Dazu hatten die neuen Mieter einen eigenen Beitrag geleistet: neben dem Genossenschaftsanteil von 300 DM, der ihnen ein Anrecht auf eine Wohnung sicherte, brachten sie ein Mieterdarlehen in Höhe von drei Jahresmieten auf, mit dem sie sich einen Wohnungsanspruch sicherten. Die Mieterdarlehen betrugen 1.100 DM für die Einzimmer-Wohnung mit Küche und Bad, für die Zweizimmer-Wohnung 1.800 DM, für die Dreizimmer-Wohnung 2.400 DM. Die Beträge wurden mit vier Prozent verzinst. Bei einem Quadratmeter-Preis von 90 Pfennigen lagen die Mieten bei 32 DM für die Einzimmer-Wohnung, bei 45 DM für die Zweizimmer-Wohnung und bei 65 DM für die Dreizimmer-Wohnung.

Die Wohnungseinweisung fand stets im Bürgersaal des Schlosses statt und unterstrich die Bedeutung des Wohnungsbaues in dieser Zeit. Bürgermeister Ludwig Bohrmann und Josef Reiter, der Leiter des Wohnungsamtes der Stadtverwaltung, brachten bei der Überreichung der Zuweisungsurkunden Augen zum Leuchten, sie verhehlten aber auch nicht, dass selbst mit diesem großzügig geförderten Projekt die Wohnungsnot in Weinheim nicht gebannt werden könne.

Im Juni 1950 war das Programm an der Stadtrandstraße mit 100 Einzimmer-, 81 Zweizimmer- und 25 Dreizimmer-Wohnungen abgeschlossen. 206 Familien hatten eine neue Wohnung erhalten: 68 heimatvertriebene, 38 fliegergeschädigte und fünf besatzungsgeschädigte Familien, dazu sechs Lehrer- und 27 Facharbeiter-Familien und 62 wohnungsuchende Familien aus Weinheim. In den neuen Wohnblocks der Baugenossenschaft lebten fortan fast 700 Alt- und Neubürger nebeneinander und miteinander.

Inzwischen sind die Wohnblocks, nun an der Händelstraße, und ihre 167 Wohnungen in die Jahre gekommen und werden Zug um Zug abgerissen und durch Neubauten ersetzt, weil sich der Schüttbeton, aus dem sie vor fast 70 Jahren entstanden sind, nicht sanieren lässt, weil die Grundrisse der Wohnungen nicht mehr den heutigen Anforderungen und Erwartungen entsprechen und weil sie nicht barrierefrei und schallgeschützt sind. In vier Bauabschnitten will die Baugenossenschaft die Mehrfamilienhäuser in einem Zeitrahmen von etwa zehn Jahren ersetzen.

Mit dem Abriss des ersten Wohnblocks, der den Blick auf ein Stück Stadtgeschichte frei gibt, wurde inzwischen der Anfang gemacht.

-ell